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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XIII. Fragment.
gangs, das was den Umgang lebendig, angenehm und nützlich macht; Kenntniß des Menschen ist
etwas, das auf einen gewissen Grad einem jeden Menschen schlechterdings unentbehrlich ist. Wie
nun aber den Menschen leichter, besser, sichrer kennen lernen, als durch Physiognomik (im wei-
tern Sinne des Worts) da man sie in so vielen tausend und tausend Fällen nicht aus den Hand-
lungen kennen lernen kann?

Man bedenke nur, wie mancherley Eigenschaften eines Menschen ich in so manchen Fällen,
wo ich etwas mit ihm zu thun habe, wo ich ihn zu etwas brauchen, ihm etwas auftragen etc. soll,
kennen muß. Mit den unbestimmten Wörtern gut und böse, verständig oder schwach -- wie
wenig ist noch mit diesem gesagt, wenn es drum zu thun ist, einen Menschen zu kennen!

Du sagst; das ist ein guter und verständiger Mensch: -- allein ich habe den Menschen
noch nie gesehen. Wie wenig weiß ich noch mit diesen zwey Prädicaten -- und was wollen die
sagen bey den Millionen Arten und Graden der Güte, und den Millionen Arten und Graden des
Verstandes, welche meynst du? -- Ja wenn du mir noch so viel Prädikate von ihm herzählst --
die Wörter alle, wie unbestimmt ist ihr Sinn und Grad? wie unsicher bin ich bey deiner Beob-
achtung, deiner Art zu schließen u. s. f. -- Hingegen: Jch sehe den Menschen, seh ihn in seinen
Bewegungen und Gebärden! hör ihn reden -- welche Bestimmtheit für mich bekommen plötzlich
alle die Prädikate, die du mir von ihm hersagtest -- wie schnell modificiren und bekräftigen sie sich
mir, oder widerlegen deine Urtheile, oder setzen mich in Zweifel? Und wie vieles weiß ich, -- fühl
ich von diesem Menschen, seit dem ich ihn gesehen habe, wie viel Convenienzen oder Jnconvenienzen
an ihm, die du mir nicht beschrieben hast, nicht hättest beschreiben können, anders als eben auch
wieder aus seinem Aeußerlichen? Als Physiognomist hiemit -- und so beweisest du also gleich
wiederum den Nutzen der Physiognomik? -- Jch hoffe, ihr sehet, fühlet doch etwas von dem
unaussprechlichen Werthe der Physiognomik? --

Laßt nun den Physiognomisten -- Beobachtungen machen, Mannichfaltigkeiten und Er-
fahrungen feinere Unterschiede bemerken, Kennzeichen angeben, immer neue Wörter zu neuen
Bemerkungen machen, allgemeinere Sätze abstrahiren, physiognomische Wissenschaft, Sprache
und Sinn vermehren, verfeinern und vervollkommnern -- so steigt und wächset also auch mit die-
sem die Brauchbarkeit und der Nutzen der Physiognomik.

Man

XIII. Fragment.
gangs, das was den Umgang lebendig, angenehm und nuͤtzlich macht; Kenntniß des Menſchen iſt
etwas, das auf einen gewiſſen Grad einem jeden Menſchen ſchlechterdings unentbehrlich iſt. Wie
nun aber den Menſchen leichter, beſſer, ſichrer kennen lernen, als durch Phyſiognomik (im wei-
tern Sinne des Worts) da man ſie in ſo vielen tauſend und tauſend Faͤllen nicht aus den Hand-
lungen kennen lernen kann?

Man bedenke nur, wie mancherley Eigenſchaften eines Menſchen ich in ſo manchen Faͤllen,
wo ich etwas mit ihm zu thun habe, wo ich ihn zu etwas brauchen, ihm etwas auftragen ꝛc. ſoll,
kennen muß. Mit den unbeſtimmten Woͤrtern gut und boͤſe, verſtaͤndig oder ſchwach — wie
wenig iſt noch mit dieſem geſagt, wenn es drum zu thun iſt, einen Menſchen zu kennen!

Du ſagſt; das iſt ein guter und verſtaͤndiger Menſch: — allein ich habe den Menſchen
noch nie geſehen. Wie wenig weiß ich noch mit dieſen zwey Praͤdicaten — und was wollen die
ſagen bey den Millionen Arten und Graden der Guͤte, und den Millionen Arten und Graden des
Verſtandes, welche meynſt du? — Ja wenn du mir noch ſo viel Praͤdikate von ihm herzaͤhlſt —
die Woͤrter alle, wie unbeſtimmt iſt ihr Sinn und Grad? wie unſicher bin ich bey deiner Beob-
achtung, deiner Art zu ſchließen u. ſ. f. — Hingegen: Jch ſehe den Menſchen, ſeh ihn in ſeinen
Bewegungen und Gebaͤrden! hoͤr ihn reden — welche Beſtimmtheit fuͤr mich bekommen ploͤtzlich
alle die Praͤdikate, die du mir von ihm herſagteſt — wie ſchnell modificiren und bekraͤftigen ſie ſich
mir, oder widerlegen deine Urtheile, oder ſetzen mich in Zweifel? Und wie vieles weiß ich, — fuͤhl
ich von dieſem Menſchen, ſeit dem ich ihn geſehen habe, wie viel Convenienzen oder Jnconvenienzen
an ihm, die du mir nicht beſchrieben haſt, nicht haͤtteſt beſchreiben koͤnnen, anders als eben auch
wieder aus ſeinem Aeußerlichen? Als Phyſiognomiſt hiemit — und ſo beweiſeſt du alſo gleich
wiederum den Nutzen der Phyſiognomik? — Jch hoffe, ihr ſehet, fuͤhlet doch etwas von dem
unausſprechlichen Werthe der Phyſiognomik? —

Laßt nun den Phyſiognomiſten — Beobachtungen machen, Mannichfaltigkeiten und Er-
fahrungen feinere Unterſchiede bemerken, Kennzeichen angeben, immer neue Woͤrter zu neuen
Bemerkungen machen, allgemeinere Saͤtze abſtrahiren, phyſiognomiſche Wiſſenſchaft, Sprache
und Sinn vermehren, verfeinern und vervollkommnern — ſo ſteigt und waͤchſet alſo auch mit die-
ſem die Brauchbarkeit und der Nutzen der Phyſiognomik.

Man
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[158/0226] XIII. Fragment. gangs, das was den Umgang lebendig, angenehm und nuͤtzlich macht; Kenntniß des Menſchen iſt etwas, das auf einen gewiſſen Grad einem jeden Menſchen ſchlechterdings unentbehrlich iſt. Wie nun aber den Menſchen leichter, beſſer, ſichrer kennen lernen, als durch Phyſiognomik (im wei- tern Sinne des Worts) da man ſie in ſo vielen tauſend und tauſend Faͤllen nicht aus den Hand- lungen kennen lernen kann? Man bedenke nur, wie mancherley Eigenſchaften eines Menſchen ich in ſo manchen Faͤllen, wo ich etwas mit ihm zu thun habe, wo ich ihn zu etwas brauchen, ihm etwas auftragen ꝛc. ſoll, kennen muß. Mit den unbeſtimmten Woͤrtern gut und boͤſe, verſtaͤndig oder ſchwach — wie wenig iſt noch mit dieſem geſagt, wenn es drum zu thun iſt, einen Menſchen zu kennen! Du ſagſt; das iſt ein guter und verſtaͤndiger Menſch: — allein ich habe den Menſchen noch nie geſehen. Wie wenig weiß ich noch mit dieſen zwey Praͤdicaten — und was wollen die ſagen bey den Millionen Arten und Graden der Guͤte, und den Millionen Arten und Graden des Verſtandes, welche meynſt du? — Ja wenn du mir noch ſo viel Praͤdikate von ihm herzaͤhlſt — die Woͤrter alle, wie unbeſtimmt iſt ihr Sinn und Grad? wie unſicher bin ich bey deiner Beob- achtung, deiner Art zu ſchließen u. ſ. f. — Hingegen: Jch ſehe den Menſchen, ſeh ihn in ſeinen Bewegungen und Gebaͤrden! hoͤr ihn reden — welche Beſtimmtheit fuͤr mich bekommen ploͤtzlich alle die Praͤdikate, die du mir von ihm herſagteſt — wie ſchnell modificiren und bekraͤftigen ſie ſich mir, oder widerlegen deine Urtheile, oder ſetzen mich in Zweifel? Und wie vieles weiß ich, — fuͤhl ich von dieſem Menſchen, ſeit dem ich ihn geſehen habe, wie viel Convenienzen oder Jnconvenienzen an ihm, die du mir nicht beſchrieben haſt, nicht haͤtteſt beſchreiben koͤnnen, anders als eben auch wieder aus ſeinem Aeußerlichen? Als Phyſiognomiſt hiemit — und ſo beweiſeſt du alſo gleich wiederum den Nutzen der Phyſiognomik? — Jch hoffe, ihr ſehet, fuͤhlet doch etwas von dem unausſprechlichen Werthe der Phyſiognomik? — Laßt nun den Phyſiognomiſten — Beobachtungen machen, Mannichfaltigkeiten und Er- fahrungen feinere Unterſchiede bemerken, Kennzeichen angeben, immer neue Woͤrter zu neuen Bemerkungen machen, allgemeinere Saͤtze abſtrahiren, phyſiognomiſche Wiſſenſchaft, Sprache und Sinn vermehren, verfeinern und vervollkommnern — ſo ſteigt und waͤchſet alſo auch mit die- ſem die Brauchbarkeit und der Nutzen der Phyſiognomik. Man

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/226>, abgerufen am 03.05.2024.