Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

damals den Zorn der Königinn durch die ge-
ringste Erniedrigung zu besänftigen gesucht, daß
er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art
mündlich und schriftlich seine Empfindlichkeit
darüber ausließ. Er that zu seiner Begnadi-
gung auch nicht wieder den ersten Schritt; die
Königinn mußte ihn thun.

Aber was geht mich hier die historische Un-
wissenheit des Herrn von Voltaire an? Eben so
wenig als ihn die historische Unwissenheit des
Corneille hätte angehen sollen. Und eigentlich
will ich mich auch nur dieser gegen ihn annehmen.

Die ganze Tragödie des Corneille sey ein Ro-
man: wenn er rührend ist, wird er dadurch we-
niger rührend, weil der Dichter sich wahrer
Namen bedienet hat?

Weßwegen wählt der tragische Dichter wahre
Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen
Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die
Charaktere, welche ihnen die Geschichte beylegt,
mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei-
gen sich vorgenommen, mehr oder weniger
Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art,
wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden
sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten.
Oder, mich mit der gewöhnlichen Praxi der

Dich-

damals den Zorn der Koͤniginn durch die ge-
ringſte Erniedrigung zu beſaͤnftigen geſucht, daß
er vielmehr auf die lebhafteſte und edelſte Art
muͤndlich und ſchriftlich ſeine Empfindlichkeit
daruͤber ausließ. Er that zu ſeiner Begnadi-
gung auch nicht wieder den erſten Schritt; die
Koͤniginn mußte ihn thun.

Aber was geht mich hier die hiſtoriſche Un-
wiſſenheit des Herrn von Voltaire an? Eben ſo
wenig als ihn die hiſtoriſche Unwiſſenheit des
Corneille haͤtte angehen ſollen. Und eigentlich
will ich mich auch nur dieſer gegen ihn annehmen.

Die ganze Tragoͤdie des Corneille ſey ein Ro-
man: wenn er ruͤhrend iſt, wird er dadurch we-
niger ruͤhrend, weil der Dichter ſich wahrer
Namen bedienet hat?

Weßwegen waͤhlt der tragiſche Dichter wahre
Namen? Nimmt er ſeine Charaktere aus dieſen
Namen; oder nimmt er dieſe Namen, weil die
Charaktere, welche ihnen die Geſchichte beylegt,
mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei-
gen ſich vorgenommen, mehr oder weniger
Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art,
wie die meiſten Trauerſpiele vielleicht entſtanden
ſind, ſondern wie ſie eigentlich entſtehen ſollten.
Oder, mich mit der gewoͤhnlichen Praxi der

Dich-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0197" n="183"/>
damals den Zorn der Ko&#x0364;niginn durch die ge-<lb/>
ring&#x017F;te Erniedrigung zu be&#x017F;a&#x0364;nftigen ge&#x017F;ucht, daß<lb/>
er vielmehr auf die lebhafte&#x017F;te und edel&#x017F;te Art<lb/>
mu&#x0364;ndlich und &#x017F;chriftlich &#x017F;eine Empfindlichkeit<lb/>
daru&#x0364;ber ausließ. Er that zu &#x017F;einer Begnadi-<lb/>
gung auch nicht wieder den er&#x017F;ten Schritt; die<lb/>
Ko&#x0364;niginn mußte ihn thun.</p><lb/>
        <p>Aber was geht mich hier die hi&#x017F;tori&#x017F;che Un-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;enheit des Herrn von Voltaire an? Eben &#x017F;o<lb/>
wenig als ihn die hi&#x017F;tori&#x017F;che Unwi&#x017F;&#x017F;enheit des<lb/>
Corneille ha&#x0364;tte angehen &#x017F;ollen. Und eigentlich<lb/>
will ich mich auch nur die&#x017F;er gegen ihn annehmen.</p><lb/>
        <p>Die ganze Trago&#x0364;die des Corneille &#x017F;ey ein Ro-<lb/>
man: wenn er ru&#x0364;hrend i&#x017F;t, wird er dadurch we-<lb/>
niger ru&#x0364;hrend, weil der Dichter &#x017F;ich wahrer<lb/>
Namen bedienet hat?</p><lb/>
        <p>Weßwegen wa&#x0364;hlt der tragi&#x017F;che Dichter wahre<lb/>
Namen? Nimmt er &#x017F;eine Charaktere aus die&#x017F;en<lb/>
Namen; oder nimmt er die&#x017F;e Namen, weil die<lb/>
Charaktere, welche ihnen die Ge&#x017F;chichte beylegt,<lb/>
mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei-<lb/>
gen &#x017F;ich vorgenommen, mehr oder weniger<lb/>
Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art,<lb/>
wie die mei&#x017F;ten Trauer&#x017F;piele vielleicht ent&#x017F;tanden<lb/>
&#x017F;ind, &#x017F;ondern wie &#x017F;ie eigentlich ent&#x017F;tehen &#x017F;ollten.<lb/>
Oder, mich mit der gewo&#x0364;hnlichen Praxi der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Dich-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0197] damals den Zorn der Koͤniginn durch die ge- ringſte Erniedrigung zu beſaͤnftigen geſucht, daß er vielmehr auf die lebhafteſte und edelſte Art muͤndlich und ſchriftlich ſeine Empfindlichkeit daruͤber ausließ. Er that zu ſeiner Begnadi- gung auch nicht wieder den erſten Schritt; die Koͤniginn mußte ihn thun. Aber was geht mich hier die hiſtoriſche Un- wiſſenheit des Herrn von Voltaire an? Eben ſo wenig als ihn die hiſtoriſche Unwiſſenheit des Corneille haͤtte angehen ſollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieſer gegen ihn annehmen. Die ganze Tragoͤdie des Corneille ſey ein Ro- man: wenn er ruͤhrend iſt, wird er dadurch we- niger ruͤhrend, weil der Dichter ſich wahrer Namen bedienet hat? Weßwegen waͤhlt der tragiſche Dichter wahre Namen? Nimmt er ſeine Charaktere aus dieſen Namen; oder nimmt er dieſe Namen, weil die Charaktere, welche ihnen die Geſchichte beylegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zei- gen ſich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meiſten Trauerſpiele vielleicht entſtanden ſind, ſondern wie ſie eigentlich entſtehen ſollten. Oder, mich mit der gewoͤhnlichen Praxi der Dich-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/197
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/197>, abgerufen am 29.04.2024.