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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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liche Mac Donnell mit dem für den Czar schwärmenden Rumpf
der "großen liberalen Partei" gestimmt!

Aber die rasche Entfaltung der russischen Pläne hat plötzlich den
Zauber gebrochen, die "mechanische Agitation" (Fünfpfundnoten, die
Haupttriebfeder des Mechanismus) gesprengt; in diesem Augenblicke
wäre es "leibesgefährlich" für die Mothershead, Howell, John
Hales, Shipton, Osborne und das ganze Pack, ihre Stimme in einem
öffentlichen Arbeitermeeting hören zu lassen; sogar ihre "Corner- und
Ticketmeetings" (Winkelmeetings gegen Eintrittskarte) werden von der
Volksmasse gewaltsam aufgelöst und auseinandergejagt.

Aber der schwerfällige "Angelsachse" wird zu spät wach, wenig-
stens für die nächsten Ereignisse. -- --

Die russische Diplomatie ist weit entfernt, die albernen "christ-
lichen" Antipathien gegen den "Halbmond" zu theilen. Die Türkei
reducirt auf Constantinopel und einen kleinen Theil von Rumelien in
Europa, aber mit compactem Hinterland in Kleinasien, Arabien etc. soll
durch Offensiv- und Defensiv-Allianz an Rußland gekettet werden.

Während des letzten Feldzugs thaten die 120,000 Polen in der
russischen Armee großen Dienst; jetzt zu den Polen die Türken --
und die zwei tapfersten Stämme von Europa, die an Europa ihre
Schmach zu rächen haben, unter russischer Fahne -- keine
schlechte Jdee!

1829 handelte Preußen -- aber damals auch nur noch der
größte europäische Kleinstaat und eingeständiger Protege von Rußland
-- gerade wie jetzt.

Die verzweifelte Lage, worin sich das russische Heer nach Ueber-
steigen des Balkans durch Diebitsch (Juli 1829) befand, hat Moltke
gut geschildert. Es war nur noch durch Diplomatie zu retten.

Die zweite Campagne war auf dem Punkt ebenso schlecht abzu-
laufen wie die erste -- und dann finis Russiae -- dann war es mit
Rußland aus. Deßhalb kam Nicolaus, der Czar, unter dem Vor-
wand, der Heirath des Prinzen Wilhelm von Preußen
(jetziger deutscher Kaiser) beizuwohnen, am 10. Juni 1829 nach
Berlin. Er bat Friedrich Wilhelm III. (den "im Siegeskranz"), die
Pforte zu vermögen, ihm Bevollmächtigte zu schicken, um die Friedens-
verhandlungen zu eröffnen. Damals war Diebitsch noch nicht über
den Balkan, der größte Theil seiner Armee festgehalten vor Silistria
und um Schumla. Friedrich Wilhelm III., im Einverständniß mit
Nicolaus, beorderte Baron Müffling officiell als außerordentlichen
Gesandten nach Constantinopel; er sollte dort aber als Agent für Ruß-
land
handeln. Müffling war reiner Ruffe, wie er selbst im "Aus
meinem Leben" erzählt; er hatte den Feldzugsplan der Russen 1827

liche Mac Donnell mit dem für den Czar ſchwärmenden Rumpf
der „großen liberalen Partei‟ geſtimmt!

Aber die raſche Entfaltung der ruſſiſchen Pläne hat plötzlich den
Zauber gebrochen, die „mechaniſche Agitation‟ (Fünfpfundnoten, die
Haupttriebfeder des Mechanismus) geſprengt; in dieſem Augenblicke
wäre es „leibesgefährlich‟ für die Mothershead, Howell, John
Hales, Shipton, Osborne und das ganze Pack, ihre Stimme in einem
öffentlichen Arbeitermeeting hören zu laſſen; ſogar ihre „Corner- und
Ticketmeetings‟ (Winkelmeetings gegen Eintrittskarte) werden von der
Volksmaſſe gewaltſam aufgelöſt und auseinandergejagt.

Aber der ſchwerfällige „Angelſachſe‟ wird zu ſpät wach, wenig-
ſtens für die nächſten Ereigniſſe. — —

Die ruſſiſche Diplomatie iſt weit entfernt, die albernen „chriſt-
lichen‟ Antipathien gegen den „Halbmond‟ zu theilen. Die Türkei
reducirt auf Conſtantinopel und einen kleinen Theil von Rumelien in
Europa, aber mit compactem Hinterland in Kleinaſien, Arabien ꝛc. ſoll
durch Offenſiv- und Defenſiv-Allianz an Rußland gekettet werden.

Während des letzten Feldzugs thaten die 120,000 Polen in der
ruſſiſchen Armee großen Dienſt; jetzt zu den Polen die Türken
und die zwei tapferſten Stämme von Europa, die an Europa ihre
Schmach zu rächen haben, unter ruſſiſcher Fahne — keine
ſchlechte Jdee!

1829 handelte Preußen — aber damals auch nur noch der
größte europäiſche Kleinſtaat und eingeſtändiger Protégé von Rußland
— gerade wie jetzt.

Die verzweifelte Lage, worin ſich das ruſſiſche Heer nach Ueber-
ſteigen des Balkans durch Diebitſch (Juli 1829) befand, hat Moltke
gut geſchildert. Es war nur noch durch Diplomatie zu retten.

Die zweite Campagne war auf dem Punkt ebenſo ſchlecht abzu-
laufen wie die erſte — und dann finis Russiae — dann war es mit
Rußland aus. Deßhalb kam Nicolaus, der Czar, unter dem Vor-
wand, der Heirath des Prinzen Wilhelm von Preußen
(jetziger deutſcher Kaiſer) beizuwohnen, am 10. Juni 1829 nach
Berlin. Er bat Friedrich Wilhelm III. (den „im Siegeskranz‟), die
Pforte zu vermögen, ihm Bevollmächtigte zu ſchicken, um die Friedens-
verhandlungen zu eröffnen. Damals war Diebitſch noch nicht über
den Balkan, der größte Theil ſeiner Armee feſtgehalten vor Siliſtria
und um Schumla. Friedrich Wilhelm III., im Einverſtändniß mit
Nicolaus, beorderte Baron Müffling officiell als außerordentlichen
Geſandten nach Conſtantinopel; er ſollte dort aber als Agent für Ruß-
land
handeln. Müffling war reiner Ruffe, wie er ſelbſt im „Aus
meinem Leben‟ erzählt; er hatte den Feldzugsplan der Ruſſen 1827

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[60/0064] liche Mac Donnell mit dem für den Czar ſchwärmenden Rumpf der „großen liberalen Partei‟ geſtimmt! Aber die raſche Entfaltung der ruſſiſchen Pläne hat plötzlich den Zauber gebrochen, die „mechaniſche Agitation‟ (Fünfpfundnoten, die Haupttriebfeder des Mechanismus) geſprengt; in dieſem Augenblicke wäre es „leibesgefährlich‟ für die Mothershead, Howell, John Hales, Shipton, Osborne und das ganze Pack, ihre Stimme in einem öffentlichen Arbeitermeeting hören zu laſſen; ſogar ihre „Corner- und Ticketmeetings‟ (Winkelmeetings gegen Eintrittskarte) werden von der Volksmaſſe gewaltſam aufgelöſt und auseinandergejagt. Aber der ſchwerfällige „Angelſachſe‟ wird zu ſpät wach, wenig- ſtens für die nächſten Ereigniſſe. — — Die ruſſiſche Diplomatie iſt weit entfernt, die albernen „chriſt- lichen‟ Antipathien gegen den „Halbmond‟ zu theilen. Die Türkei reducirt auf Conſtantinopel und einen kleinen Theil von Rumelien in Europa, aber mit compactem Hinterland in Kleinaſien, Arabien ꝛc. ſoll durch Offenſiv- und Defenſiv-Allianz an Rußland gekettet werden. Während des letzten Feldzugs thaten die 120,000 Polen in der ruſſiſchen Armee großen Dienſt; jetzt zu den Polen die Türken — und die zwei tapferſten Stämme von Europa, die an Europa ihre Schmach zu rächen haben, unter ruſſiſcher Fahne — keine ſchlechte Jdee! 1829 handelte Preußen — aber damals auch nur noch der größte europäiſche Kleinſtaat und eingeſtändiger Protégé von Rußland — gerade wie jetzt. Die verzweifelte Lage, worin ſich das ruſſiſche Heer nach Ueber- ſteigen des Balkans durch Diebitſch (Juli 1829) befand, hat Moltke gut geſchildert. Es war nur noch durch Diplomatie zu retten. Die zweite Campagne war auf dem Punkt ebenſo ſchlecht abzu- laufen wie die erſte — und dann finis Russiae — dann war es mit Rußland aus. Deßhalb kam Nicolaus, der Czar, unter dem Vor- wand, der Heirath des Prinzen Wilhelm von Preußen (jetziger deutſcher Kaiſer) beizuwohnen, am 10. Juni 1829 nach Berlin. Er bat Friedrich Wilhelm III. (den „im Siegeskranz‟), die Pforte zu vermögen, ihm Bevollmächtigte zu ſchicken, um die Friedens- verhandlungen zu eröffnen. Damals war Diebitſch noch nicht über den Balkan, der größte Theil ſeiner Armee feſtgehalten vor Siliſtria und um Schumla. Friedrich Wilhelm III., im Einverſtändniß mit Nicolaus, beorderte Baron Müffling officiell als außerordentlichen Geſandten nach Conſtantinopel; er ſollte dort aber als Agent für Ruß- land handeln. Müffling war reiner Ruffe, wie er ſelbſt im „Aus meinem Leben‟ erzählt; er hatte den Feldzugsplan der Ruſſen 1827

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/64>, abgerufen am 27.04.2024.