Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

fragen, dem sie gehört: "Wo ist dein Bruder Abel hin?"
Nein. Er will dem Sohne sagen, daß Jener verun¬
glückt ist; er meint, es ist ein Unglückstag und er soll
heut nicht mehr arbeiten. Und fragt er doch, die Ant¬
wort ist fast so alt, als das Menschengeschlecht: "Soll
ich meines Bruders Hüter sein?" Dabei kommt's ihm
wie eine Erleichterung, daß ihm einfällt, der Vater ist
blind. Denn er weiß, seine sehenden Augen könnte er
jetzt nicht ertragen. Er hämmert und nagelt immer
hastiger. Er würde dem Vater ausweichen, wenn er
könnte, aber der Dachstuhl ist schmal und der Alte
spricht schon an dem Aussteigeloch im Dache. Er will
ihn nicht eher bemerken, als bis er muß. "Nun ist's
schon gut," hört er den Alten sagen. "Mach' Er seinem
Meister mein Compliment; und da ist etwas für Ihn.
Trink' er eine Gesundheit dafür." Fritz Nettenmair
hört, der alte Herr setzt sich auf die bloßgelegte Latte
im Aussteigeloch, und weiß, der alte Herr füllt die
ganze Oeffnung mit seiner Gestalt. Er hört den Dank
des Gesellen und seine Tritte, wie sie immer ferner
klingen. "Schönes Wetter", sagt Herr Nettenmair. Der
Sohn erräth, der Alte will wissen, ob noch Jemand
in der Nähe ist. Es antwortet Niemand; Fritz Net¬
tenmair stirbt der Ton in der Brust; er hämmert immer
lauter und hastiger. Er wünscht, die Stunde, der Tag,
das Leben wär' zu Ende. "Fritz," ruft der Alte. Er
ruft noch einmal, und er ruft noch einmal. Fritz Netten¬

fragen, dem ſie gehört: „Wo iſt dein Bruder Abel hin?“
Nein. Er will dem Sohne ſagen, daß Jener verun¬
glückt iſt; er meint, es iſt ein Unglückstag und er ſoll
heut nicht mehr arbeiten. Und fragt er doch, die Ant¬
wort iſt faſt ſo alt, als das Menſchengeſchlecht: „Soll
ich meines Bruders Hüter ſein?“ Dabei kommt's ihm
wie eine Erleichterung, daß ihm einfällt, der Vater iſt
blind. Denn er weiß, ſeine ſehenden Augen könnte er
jetzt nicht ertragen. Er hämmert und nagelt immer
haſtiger. Er würde dem Vater ausweichen, wenn er
könnte, aber der Dachſtuhl iſt ſchmal und der Alte
ſpricht ſchon an dem Ausſteigeloch im Dache. Er will
ihn nicht eher bemerken, als bis er muß. „Nun iſt's
ſchon gut,“ hört er den Alten ſagen. „Mach' Er ſeinem
Meiſter mein Compliment; und da iſt etwas für Ihn.
Trink' er eine Geſundheit dafür.“ Fritz Nettenmair
hört, der alte Herr ſetzt ſich auf die bloßgelegte Latte
im Ausſteigeloch, und weiß, der alte Herr füllt die
ganze Oeffnung mit ſeiner Geſtalt. Er hört den Dank
des Geſellen und ſeine Tritte, wie ſie immer ferner
klingen. „Schönes Wetter“, ſagt Herr Nettenmair. Der
Sohn erräth, der Alte will wiſſen, ob noch Jemand
in der Nähe iſt. Es antwortet Niemand; Fritz Net¬
tenmair ſtirbt der Ton in der Bruſt; er hämmert immer
lauter und haſtiger. Er wünſcht, die Stunde, der Tag,
das Leben wär' zu Ende. „Fritz,“ ruft der Alte. Er
ruft noch einmal, und er ruft noch einmal. Fritz Netten¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0219" n="210"/>
fragen, dem &#x017F;ie gehört: &#x201E;Wo i&#x017F;t dein Bruder Abel hin?&#x201C;<lb/>
Nein. Er will dem Sohne &#x017F;agen, daß Jener verun¬<lb/>
glückt i&#x017F;t; er meint, es i&#x017F;t ein Unglückstag und er &#x017F;oll<lb/>
heut nicht mehr arbeiten. Und fragt er doch, die Ant¬<lb/>
wort i&#x017F;t fa&#x017F;t &#x017F;o alt, als das Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht: &#x201E;Soll<lb/>
ich meines Bruders Hüter &#x017F;ein?&#x201C; Dabei kommt's ihm<lb/>
wie eine Erleichterung, daß ihm einfällt, der Vater i&#x017F;t<lb/>
blind. Denn er weiß, &#x017F;eine &#x017F;ehenden Augen könnte er<lb/>
jetzt nicht ertragen. Er hämmert und nagelt immer<lb/>
ha&#x017F;tiger. Er würde dem Vater ausweichen, wenn er<lb/>
könnte, aber der Dach&#x017F;tuhl i&#x017F;t &#x017F;chmal und der Alte<lb/>
&#x017F;pricht &#x017F;chon an dem Aus&#x017F;teigeloch im Dache. Er will<lb/>
ihn nicht eher bemerken, als bis er muß. &#x201E;Nun i&#x017F;t's<lb/>
&#x017F;chon gut,&#x201C; hört er den Alten &#x017F;agen. &#x201E;Mach' Er &#x017F;einem<lb/>
Mei&#x017F;ter mein Compliment; und da i&#x017F;t etwas für Ihn.<lb/>
Trink' er eine Ge&#x017F;undheit dafür.&#x201C; Fritz Nettenmair<lb/>
hört, der alte Herr &#x017F;etzt &#x017F;ich auf die bloßgelegte Latte<lb/>
im Aus&#x017F;teigeloch, und weiß, der alte Herr füllt die<lb/>
ganze Oeffnung mit &#x017F;einer Ge&#x017F;talt. Er hört den Dank<lb/>
des Ge&#x017F;ellen und &#x017F;eine Tritte, wie &#x017F;ie immer ferner<lb/>
klingen. &#x201E;Schönes Wetter&#x201C;, &#x017F;agt Herr Nettenmair. Der<lb/>
Sohn erräth, der Alte will wi&#x017F;&#x017F;en, ob noch Jemand<lb/>
in der Nähe i&#x017F;t. Es antwortet Niemand; Fritz Net¬<lb/>
tenmair &#x017F;tirbt der Ton in der Bru&#x017F;t; er hämmert immer<lb/>
lauter und ha&#x017F;tiger. Er wün&#x017F;cht, die Stunde, der Tag,<lb/>
das Leben wär' zu Ende. &#x201E;Fritz,&#x201C; ruft der Alte. Er<lb/>
ruft noch einmal, und er ruft noch einmal. Fritz Netten¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0219] fragen, dem ſie gehört: „Wo iſt dein Bruder Abel hin?“ Nein. Er will dem Sohne ſagen, daß Jener verun¬ glückt iſt; er meint, es iſt ein Unglückstag und er ſoll heut nicht mehr arbeiten. Und fragt er doch, die Ant¬ wort iſt faſt ſo alt, als das Menſchengeſchlecht: „Soll ich meines Bruders Hüter ſein?“ Dabei kommt's ihm wie eine Erleichterung, daß ihm einfällt, der Vater iſt blind. Denn er weiß, ſeine ſehenden Augen könnte er jetzt nicht ertragen. Er hämmert und nagelt immer haſtiger. Er würde dem Vater ausweichen, wenn er könnte, aber der Dachſtuhl iſt ſchmal und der Alte ſpricht ſchon an dem Ausſteigeloch im Dache. Er will ihn nicht eher bemerken, als bis er muß. „Nun iſt's ſchon gut,“ hört er den Alten ſagen. „Mach' Er ſeinem Meiſter mein Compliment; und da iſt etwas für Ihn. Trink' er eine Geſundheit dafür.“ Fritz Nettenmair hört, der alte Herr ſetzt ſich auf die bloßgelegte Latte im Ausſteigeloch, und weiß, der alte Herr füllt die ganze Oeffnung mit ſeiner Geſtalt. Er hört den Dank des Geſellen und ſeine Tritte, wie ſie immer ferner klingen. „Schönes Wetter“, ſagt Herr Nettenmair. Der Sohn erräth, der Alte will wiſſen, ob noch Jemand in der Nähe iſt. Es antwortet Niemand; Fritz Net¬ tenmair ſtirbt der Ton in der Bruſt; er hämmert immer lauter und haſtiger. Er wünſcht, die Stunde, der Tag, das Leben wär' zu Ende. „Fritz,“ ruft der Alte. Er ruft noch einmal, und er ruft noch einmal. Fritz Netten¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/219
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/219>, abgerufen am 29.04.2024.