Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

Schande, als Schande und Mord. Denk', ich hab's
geschworen, und nun thu', was du willst." Der alte
Herr rief den Gesellen herauf und ließ sich heimführen.


Unterdeß war das Gerücht, das dem alten Herrn
auf seinem Wege nach Sankt Georg begegnet war,
auch in die Straße gekommen, wo das Haus mit den
grünen Laden steht. Vor den Fenstern erzählte es ein
Vorübergehender einem andern. Die Frau hörte nichts
als: "Wißt ihr's schon? In Brambach ist ein Schiefer¬
decker verunglückt." Dann sank sie vom Stuhle, von
dem sie aufspringen wollte, auf die Dielen. Wiederum
mußte der alte Valentin seinen Schmerz um Apollonius
über der Angst und Sorge um die Frau vergessen.
Er eilte hinzu. Den Fall ganz verhindern konnte er
nicht, nur den Kopf der Frau vor der scharfen Kante
des Stuhlbeins bewahren, woran dieser sonst anschla¬
gend sich verletzt hätte. Da saß er neben der liegenden
Frau auf den Füßen und hielt in den zitternden Hän¬
den Nacken und Kopf der Frau. Von seinem Griffe
war ihr das volle dunkelbraune Haar über der Stirne
aufgegangen und verdeckte das bleiche Gesicht. Ihre
vorderen Haare hatten einen Drang, sich in natür¬
lichen Locken zu kräuseln, den sie durch das scharfe
Anziehen der Scheitel nur vorübergehend überwinden

Schande, als Schande und Mord. Denk', ich hab's
geſchworen, und nun thu', was du willſt.“ Der alte
Herr rief den Geſellen herauf und ließ ſich heimführen.


Unterdeß war das Gerücht, das dem alten Herrn
auf ſeinem Wege nach Sankt Georg begegnet war,
auch in die Straße gekommen, wo das Haus mit den
grünen Laden ſteht. Vor den Fenſtern erzählte es ein
Vorübergehender einem andern. Die Frau hörte nichts
als: „Wißt ihr's ſchon? In Brambach iſt ein Schiefer¬
decker verunglückt.“ Dann ſank ſie vom Stuhle, von
dem ſie aufſpringen wollte, auf die Dielen. Wiederum
mußte der alte Valentin ſeinen Schmerz um Apollonius
über der Angſt und Sorge um die Frau vergeſſen.
Er eilte hinzu. Den Fall ganz verhindern konnte er
nicht, nur den Kopf der Frau vor der ſcharfen Kante
des Stuhlbeins bewahren, woran dieſer ſonſt anſchla¬
gend ſich verletzt hätte. Da ſaß er neben der liegenden
Frau auf den Füßen und hielt in den zitternden Hän¬
den Nacken und Kopf der Frau. Von ſeinem Griffe
war ihr das volle dunkelbraune Haar über der Stirne
aufgegangen und verdeckte das bleiche Geſicht. Ihre
vorderen Haare hatten einen Drang, ſich in natür¬
lichen Locken zu kräuſeln, den ſie durch das ſcharfe
Anziehen der Scheitel nur vorübergehend überwinden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0232" n="223"/>
Schande, als Schande und Mord. Denk', ich hab's<lb/>
ge&#x017F;chworen, und nun thu', was du will&#x017F;t.&#x201C; Der alte<lb/>
Herr rief den Ge&#x017F;ellen herauf und ließ &#x017F;ich heimführen.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Unterdeß war das Gerücht, das dem alten Herrn<lb/>
auf &#x017F;einem Wege nach Sankt Georg begegnet war,<lb/>
auch in die Straße gekommen, wo das Haus mit den<lb/>
grünen Laden &#x017F;teht. Vor den Fen&#x017F;tern erzählte es ein<lb/>
Vorübergehender einem andern. Die Frau hörte nichts<lb/>
als: &#x201E;Wißt ihr's &#x017F;chon? In Brambach i&#x017F;t ein Schiefer¬<lb/>
decker verunglückt.&#x201C; Dann &#x017F;ank &#x017F;ie vom Stuhle, von<lb/>
dem &#x017F;ie auf&#x017F;pringen wollte, auf die Dielen. Wiederum<lb/>
mußte der alte Valentin &#x017F;einen Schmerz um Apollonius<lb/>
über der Ang&#x017F;t und Sorge um die Frau verge&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Er eilte hinzu. Den Fall ganz verhindern konnte er<lb/>
nicht, nur den Kopf der Frau vor der &#x017F;charfen Kante<lb/>
des Stuhlbeins bewahren, woran die&#x017F;er &#x017F;on&#x017F;t an&#x017F;chla¬<lb/>
gend &#x017F;ich verletzt hätte. Da &#x017F;aß er neben der liegenden<lb/>
Frau auf den Füßen und hielt in den zitternden Hän¬<lb/>
den Nacken und Kopf der Frau. Von &#x017F;einem Griffe<lb/>
war ihr das volle dunkelbraune Haar über der Stirne<lb/>
aufgegangen und verdeckte das bleiche Ge&#x017F;icht. Ihre<lb/>
vorderen Haare hatten einen Drang, &#x017F;ich in natür¬<lb/>
lichen Locken zu kräu&#x017F;eln, den &#x017F;ie durch das &#x017F;charfe<lb/>
Anziehen der Scheitel nur vorübergehend überwinden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0232] Schande, als Schande und Mord. Denk', ich hab's geſchworen, und nun thu', was du willſt.“ Der alte Herr rief den Geſellen herauf und ließ ſich heimführen. Unterdeß war das Gerücht, das dem alten Herrn auf ſeinem Wege nach Sankt Georg begegnet war, auch in die Straße gekommen, wo das Haus mit den grünen Laden ſteht. Vor den Fenſtern erzählte es ein Vorübergehender einem andern. Die Frau hörte nichts als: „Wißt ihr's ſchon? In Brambach iſt ein Schiefer¬ decker verunglückt.“ Dann ſank ſie vom Stuhle, von dem ſie aufſpringen wollte, auf die Dielen. Wiederum mußte der alte Valentin ſeinen Schmerz um Apollonius über der Angſt und Sorge um die Frau vergeſſen. Er eilte hinzu. Den Fall ganz verhindern konnte er nicht, nur den Kopf der Frau vor der ſcharfen Kante des Stuhlbeins bewahren, woran dieſer ſonſt anſchla¬ gend ſich verletzt hätte. Da ſaß er neben der liegenden Frau auf den Füßen und hielt in den zitternden Hän¬ den Nacken und Kopf der Frau. Von ſeinem Griffe war ihr das volle dunkelbraune Haar über der Stirne aufgegangen und verdeckte das bleiche Geſicht. Ihre vorderen Haare hatten einen Drang, ſich in natür¬ lichen Locken zu kräuſeln, den ſie durch das ſcharfe Anziehen der Scheitel nur vorübergehend überwinden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/232
Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/232>, abgerufen am 29.04.2024.