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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Viertes Kapitel.
sich gar keine Schwierigkeiten bieten, dürften genügen,
um den Sinn der Operationen der analytischen Mechanik
zu erläutern. Neue principielle Aufklärungen über
die Natur der mechanischen Vorgänge darf man von
der analytischen Mechanik nicht erwarten. Vielmehr
muss die principielle Erkenntniss im wesentlichen ab-
geschlossen sein, bevor an den Aufbau einer analyti-
schen Mechanik gedacht werden kann, welche nur die
einfachste praktische Bewältigung der Aufgaben zum
Ziel hat. Wer dieses Verhältniss verkennen würde,
dem würde Lagrange's grosse Leistung, welche auch
hier eine wesentlich ökonomische ist, unverständlich
bleiben. Poinsot ist von diesem Fehler nicht ganz frei-
zusprechen.

Erwähnt muss werden, dass durch Möbius, Hamilton,
Grassmann u. A. eine neue Formwandlung der Mechanik
sich vorbereitet, indem die genannten Forscher mathe-
matische Begriffe entwickelt haben, welche sich genauer
und unmittelbarer den geometrischen Vorstellungen an-
schliessen, als jene der gewöhnlichen analytischen Geo-
metrie, wodurch also die Vortheile analytischer Allge-
meinheit und geometrischer Anschaulichkeit vereinigt
werden. Diese Wandlung liegt freilich noch ausser-
halb der Grenzen einer historischen Darstellung.

4. Die Oekonomie der Wissenschaft.

1. Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen
oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung
von Thatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen
leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst, und
dieselbe in mancher Beziehung vertreten können. Diese
ökonomische Function der Wissenschaft, welche deren
Wesen ganz durchdringt, wird schon durch die allge-
meinsten Ueberlegungen klar. Mit der Erkenntniss des
ökonomischen Charakters verschwindet auch alle Mystik
aus der Wissenschaft. Die Mittheilung der Wissen-
schaft durch den Unterricht bezweckt, einem Individuum

Viertes Kapitel.
sich gar keine Schwierigkeiten bieten, dürften genügen,
um den Sinn der Operationen der analytischen Mechanik
zu erläutern. Neue principielle Aufklärungen über
die Natur der mechanischen Vorgänge darf man von
der analytischen Mechanik nicht erwarten. Vielmehr
muss die principielle Erkenntniss im wesentlichen ab-
geschlossen sein, bevor an den Aufbau einer analyti-
schen Mechanik gedacht werden kann, welche nur die
einfachste praktische Bewältigung der Aufgaben zum
Ziel hat. Wer dieses Verhältniss verkennen würde,
dem würde Lagrange’s grosse Leistung, welche auch
hier eine wesentlich ökonomische ist, unverständlich
bleiben. Poinsot ist von diesem Fehler nicht ganz frei-
zusprechen.

Erwähnt muss werden, dass durch Möbius, Hamilton,
Grassmann u. A. eine neue Formwandlung der Mechanik
sich vorbereitet, indem die genannten Forscher mathe-
matische Begriffe entwickelt haben, welche sich genauer
und unmittelbarer den geometrischen Vorstellungen an-
schliessen, als jene der gewöhnlichen analytischen Geo-
metrie, wodurch also die Vortheile analytischer Allge-
meinheit und geometrischer Anschaulichkeit vereinigt
werden. Diese Wandlung liegt freilich noch ausser-
halb der Grenzen einer historischen Darstellung.

4. Die Oekonomie der Wissenschaft.

1. Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen
oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung
von Thatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen
leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst, und
dieselbe in mancher Beziehung vertreten können. Diese
ökonomische Function der Wissenschaft, welche deren
Wesen ganz durchdringt, wird schon durch die allge-
meinsten Ueberlegungen klar. Mit der Erkenntniss des
ökonomischen Charakters verschwindet auch alle Mystik
aus der Wissenschaft. Die Mittheilung der Wissen-
schaft durch den Unterricht bezweckt, einem Individuum

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[452/0464] Viertes Kapitel. sich gar keine Schwierigkeiten bieten, dürften genügen, um den Sinn der Operationen der analytischen Mechanik zu erläutern. Neue principielle Aufklärungen über die Natur der mechanischen Vorgänge darf man von der analytischen Mechanik nicht erwarten. Vielmehr muss die principielle Erkenntniss im wesentlichen ab- geschlossen sein, bevor an den Aufbau einer analyti- schen Mechanik gedacht werden kann, welche nur die einfachste praktische Bewältigung der Aufgaben zum Ziel hat. Wer dieses Verhältniss verkennen würde, dem würde Lagrange’s grosse Leistung, welche auch hier eine wesentlich ökonomische ist, unverständlich bleiben. Poinsot ist von diesem Fehler nicht ganz frei- zusprechen. Erwähnt muss werden, dass durch Möbius, Hamilton, Grassmann u. A. eine neue Formwandlung der Mechanik sich vorbereitet, indem die genannten Forscher mathe- matische Begriffe entwickelt haben, welche sich genauer und unmittelbarer den geometrischen Vorstellungen an- schliessen, als jene der gewöhnlichen analytischen Geo- metrie, wodurch also die Vortheile analytischer Allge- meinheit und geometrischer Anschaulichkeit vereinigt werden. Diese Wandlung liegt freilich noch ausser- halb der Grenzen einer historischen Darstellung. 4. Die Oekonomie der Wissenschaft. 1. Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von Thatsachen in Gedanken, welche Nachbildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst, und dieselbe in mancher Beziehung vertreten können. Diese ökonomische Function der Wissenschaft, welche deren Wesen ganz durchdringt, wird schon durch die allge- meinsten Ueberlegungen klar. Mit der Erkenntniss des ökonomischen Charakters verschwindet auch alle Mystik aus der Wissenschaft. Die Mittheilung der Wissen- schaft durch den Unterricht bezweckt, einem Individuum

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/464>, abgerufen am 27.04.2024.