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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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lehren kann. Er nimmt einen angeborenen Verstandes-
begriff an, unter welchen ein in der Erfahrung gegebener
Fall subsumirt wird. Schopenhauer, der im wesent-
lichen denselben Standpunkt hat, unterscheidet eine
vierfache Form des "Satzes vom zureichenden Grunde",
die logische, physische, mathematische Form, und das
Gesetz der Motivation. Diese Formen unterscheiden
sich aber nur nach dem Stoff, auf welchen sie ange-
wandt werden, welcher theils der äussern und theils
der innern Erfahrung angehört.

Die naive und natürliche Aufklärung scheint folgende
zu sein. Die Begriffe Ursache und Wirkung entstehen
erst durch das Bestreben, die Thatsachen nachzubilden.
Zunächst entsteht nur eine Gewohnheit der Verknüpfung
von A und B, C und D, E und F u. s. w. Beobachtet
man, wenn man schon viele Erfahrung besitzt, eine Ver-
knüpfung von M und N, so erkennt man oft M als
aus A, C, E, und N als aus B, D, F bestehend, deren
Verknüpfung schon geläufig ist, und uns mit einer
höhern Autorität gegenübertritt. Dadurch erklärt es sich,
dass der erfahrene Mensch jede neue Erfahrung mit
andern Augen ansieht als der Neuling. Die neue Er-
fahrung tritt der ganzen ältern gegenüber. In der
That gibt es also einen "Verstandesbegriff", unter
welchen jede neue Erfahrung subsumirt wird; derselbe
ist aber durch die Erfahrung selbst entwickelt. Die Vor-
stellung von der Nothwendigkeit des Zusammen-
hanges von Ursache und Wirkung bildet sich wahr-
scheinlich durch unsere willkürliche Bewegung, und
die Veränderungen, welche wir mittelbar durch diese
hervorbringen, wie dies Hume angenommen, Schopen-
hauer aber bestritten hat. Wichtig ist es für die
Autorität der Begriffe Ursache und Wirkung, dass
sich dieselben instinctiv und unwillkürlich ent-
wickeln, dass wir deutlich fühlen, persönlich nichts zur
Bildung derselben beigetragen zu haben. Ja, wir
können sogar sagen, dass das Gefühl für Causalität
nicht vom Individuum erworben, sondern durch die

Viertes Kapitel.
lehren kann. Er nimmt einen angeborenen Verstandes-
begriff an, unter welchen ein in der Erfahrung gegebener
Fall subsumirt wird. Schopenhauer, der im wesent-
lichen denselben Standpunkt hat, unterscheidet eine
vierfache Form des „Satzes vom zureichenden Grunde‟,
die logische, physische, mathematische Form, und das
Gesetz der Motivation. Diese Formen unterscheiden
sich aber nur nach dem Stoff, auf welchen sie ange-
wandt werden, welcher theils der äussern und theils
der innern Erfahrung angehört.

Die naive und natürliche Aufklärung scheint folgende
zu sein. Die Begriffe Ursache und Wirkung entstehen
erst durch das Bestreben, die Thatsachen nachzubilden.
Zunächst entsteht nur eine Gewohnheit der Verknüpfung
von A und B, C und D, E und F u. s. w. Beobachtet
man, wenn man schon viele Erfahrung besitzt, eine Ver-
knüpfung von M und N, so erkennt man oft M als
aus A, C, E, und N als aus B, D, F bestehend, deren
Verknüpfung schon geläufig ist, und uns mit einer
höhern Autorität gegenübertritt. Dadurch erklärt es sich,
dass der erfahrene Mensch jede neue Erfahrung mit
andern Augen ansieht als der Neuling. Die neue Er-
fahrung tritt der ganzen ältern gegenüber. In der
That gibt es also einen „Verstandesbegriff‟, unter
welchen jede neue Erfahrung subsumirt wird; derselbe
ist aber durch die Erfahrung selbst entwickelt. Die Vor-
stellung von der Nothwendigkeit des Zusammen-
hanges von Ursache und Wirkung bildet sich wahr-
scheinlich durch unsere willkürliche Bewegung, und
die Veränderungen, welche wir mittelbar durch diese
hervorbringen, wie dies Hume angenommen, Schopen-
hauer aber bestritten hat. Wichtig ist es für die
Autorität der Begriffe Ursache und Wirkung, dass
sich dieselben instinctiv und unwillkürlich ent-
wickeln, dass wir deutlich fühlen, persönlich nichts zur
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können sogar sagen, dass das Gefühl für Causalität
nicht vom Individuum erworben, sondern durch die

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[456/0468] Viertes Kapitel. lehren kann. Er nimmt einen angeborenen Verstandes- begriff an, unter welchen ein in der Erfahrung gegebener Fall subsumirt wird. Schopenhauer, der im wesent- lichen denselben Standpunkt hat, unterscheidet eine vierfache Form des „Satzes vom zureichenden Grunde‟, die logische, physische, mathematische Form, und das Gesetz der Motivation. Diese Formen unterscheiden sich aber nur nach dem Stoff, auf welchen sie ange- wandt werden, welcher theils der äussern und theils der innern Erfahrung angehört. Die naive und natürliche Aufklärung scheint folgende zu sein. Die Begriffe Ursache und Wirkung entstehen erst durch das Bestreben, die Thatsachen nachzubilden. Zunächst entsteht nur eine Gewohnheit der Verknüpfung von A und B, C und D, E und F u. s. w. Beobachtet man, wenn man schon viele Erfahrung besitzt, eine Ver- knüpfung von M und N, so erkennt man oft M als aus A, C, E, und N als aus B, D, F bestehend, deren Verknüpfung schon geläufig ist, und uns mit einer höhern Autorität gegenübertritt. Dadurch erklärt es sich, dass der erfahrene Mensch jede neue Erfahrung mit andern Augen ansieht als der Neuling. Die neue Er- fahrung tritt der ganzen ältern gegenüber. In der That gibt es also einen „Verstandesbegriff‟, unter welchen jede neue Erfahrung subsumirt wird; derselbe ist aber durch die Erfahrung selbst entwickelt. Die Vor- stellung von der Nothwendigkeit des Zusammen- hanges von Ursache und Wirkung bildet sich wahr- scheinlich durch unsere willkürliche Bewegung, und die Veränderungen, welche wir mittelbar durch diese hervorbringen, wie dies Hume angenommen, Schopen- hauer aber bestritten hat. Wichtig ist es für die Autorität der Begriffe Ursache und Wirkung, dass sich dieselben instinctiv und unwillkürlich ent- wickeln, dass wir deutlich fühlen, persönlich nichts zur Bildung derselben beigetragen zu haben. Ja, wir können sogar sagen, dass das Gefühl für Causalität nicht vom Individuum erworben, sondern durch die

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/468>, abgerufen am 27.04.2024.