Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Fünftes Kapitel.
Function, wie gewisse mathematische Hülfsvorstellungen,
sie ist ein mathematisches Modell zur Darstellung der
Thatsachen. Wenn man auch die Schwingungen durch
Sinusformeln, die Abkühlungsvorgänge durch Exponen-
zielle, die Fallräume durch Quadrate der Zeiten dar-
stellt, so denkt doch niemand daran, dass die Schwingung
an sich mit einer Winkel- oder Kreisfunction, der Fall
an sich mit dem Quadriren etwas zu schaffen hat.
Man hat eben bemerkt, dass zwischen den beobachteten
Grössen ähnliche Beziehungen stattfinden wie zwischen
gewissen uns geläufigen Functionen, und benutzt diese
geläufigern Vorstellungen zur bequemen Ergänzung
der Erfahrung. Naturerscheinungen, welche in ihren Be-
ziehungen nicht jenen der uns geläufigen Functionen
gleichen, sind jetzt sehr schwer darzustellen. Das kann
anders werden mit den Fortschritten der Mathematik. --
Als solche mathematische Hülfsvorstellungen können auch
Räume von mehr als drei Dimensionen nützlich werden,
wie ich dies anderwärts auseinander gesetzt habe. Man
hat deshalb nicht nöthig, dieselben für mehr zu halten
als für Gedankendinge.1

1 Bekanntlich hat sich durch die Bemühungen von Loba-
tschefsky, Bolyai, Gauss, Riemann allmählich die Einsicht
Bahn gebrochen, dass dasjenige, was wir Raum nennen, ein
specieller wirklicher Fall eines allgemeineren
denkbaren
Falles mehrfacher quantitativer Mannichfaltig-
keit sei. Der Raum des Gesichtes und Getastes ist eine
dreifache Mannichfaltigkeit, er hat drei Dimensionen, jeder
Ort in demselben kann durch drei voneinander unabhängige
Merkmale bestimmt werden. Es ist nun eine vierfache, oder
noch mehrfache raumähnliche Mannichfaltigkeit denkbar.
Und auch die Art der Mannichfaltigkeit kann anders gedacht
werden, als sie im gegebenen Raum angetroffen wird. Wir
halten diese Aufklärung, um die sich Riemann am meisten
verdient gemacht hat, für sehr wichtig. Die Eigenschaften
des gegebenen Raumes erscheinen sofort als Objecte der Er-
fahrung
, und alle geometrischen Pseudotheorien, welche
dieselben herausphilosophiren wollen, entfallen.
Einem Wesen, welches in der Kugelfläche leben würde
und keinen andern Raum zum Vergleich hätte, würde sein

Fünftes Kapitel.
Function, wie gewisse mathematische Hülfsvorstellungen,
sie ist ein mathematisches Modell zur Darstellung der
Thatsachen. Wenn man auch die Schwingungen durch
Sinusformeln, die Abkühlungsvorgänge durch Exponen-
zielle, die Fallräume durch Quadrate der Zeiten dar-
stellt, so denkt doch niemand daran, dass die Schwingung
an sich mit einer Winkel- oder Kreisfunction, der Fall
an sich mit dem Quadriren etwas zu schaffen hat.
Man hat eben bemerkt, dass zwischen den beobachteten
Grössen ähnliche Beziehungen stattfinden wie zwischen
gewissen uns geläufigen Functionen, und benutzt diese
geläufigern Vorstellungen zur bequemen Ergänzung
der Erfahrung. Naturerscheinungen, welche in ihren Be-
ziehungen nicht jenen der uns geläufigen Functionen
gleichen, sind jetzt sehr schwer darzustellen. Das kann
anders werden mit den Fortschritten der Mathematik. —
Als solche mathematische Hülfsvorstellungen können auch
Räume von mehr als drei Dimensionen nützlich werden,
wie ich dies anderwärts auseinander gesetzt habe. Man
hat deshalb nicht nöthig, dieselben für mehr zu halten
als für Gedankendinge.1

1 Bekanntlich hat sich durch die Bemühungen von Loba-
tschefsky, Bolyai, Gauss, Riemann allmählich die Einsicht
Bahn gebrochen, dass dasjenige, was wir Raum nennen, ein
specieller wirklicher Fall eines allgemeineren
denkbaren
Falles mehrfacher quantitativer Mannichfaltig-
keit sei. Der Raum des Gesichtes und Getastes ist eine
dreifache Mannichfaltigkeit, er hat drei Dimensionen, jeder
Ort in demselben kann durch drei voneinander unabhängige
Merkmale bestimmt werden. Es ist nun eine vierfache, oder
noch mehrfache raumähnliche Mannichfaltigkeit denkbar.
Und auch die Art der Mannichfaltigkeit kann anders gedacht
werden, als sie im gegebenen Raum angetroffen wird. Wir
halten diese Aufklärung, um die sich Riemann am meisten
verdient gemacht hat, für sehr wichtig. Die Eigenschaften
des gegebenen Raumes erscheinen sofort als Objecte der Er-
fahrung
, und alle geometrischen Pseudotheorien, welche
dieselben herausphilosophiren wollen, entfallen.
Einem Wesen, welches in der Kugelfläche leben würde
und keinen andern Raum zum Vergleich hätte, würde sein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0476" n="464"/><fw place="top" type="header">Fünftes Kapitel.</fw><lb/>
Function, wie gewisse mathematische Hülfsvorstellungen,<lb/>
sie ist ein mathematisches <hi rendition="#g">Modell</hi> zur Darstellung der<lb/>
Thatsachen. Wenn man auch die Schwingungen durch<lb/>
Sinusformeln, die Abkühlungsvorgänge durch Exponen-<lb/>
zielle, die Fallräume durch Quadrate der Zeiten dar-<lb/>
stellt, so denkt doch niemand daran, dass die Schwingung<lb/><hi rendition="#g">an sich</hi> mit einer Winkel- oder Kreisfunction, der Fall<lb/>
an sich mit dem Quadriren etwas zu schaffen hat.<lb/>
Man hat eben bemerkt, dass zwischen den beobachteten<lb/>
Grössen ähnliche Beziehungen stattfinden wie zwischen<lb/>
gewissen uns <hi rendition="#g">geläufigen</hi> Functionen, und benutzt diese<lb/><hi rendition="#g">geläufigern</hi> Vorstellungen zur bequemen Ergänzung<lb/>
der Erfahrung. Naturerscheinungen, welche in ihren Be-<lb/>
ziehungen nicht jenen der uns geläufigen Functionen<lb/>
gleichen, sind jetzt sehr schwer darzustellen. Das kann<lb/>
anders werden mit den Fortschritten der Mathematik. &#x2014;<lb/>
Als solche mathematische Hülfsvorstellungen können auch<lb/>
Räume von mehr als drei Dimensionen nützlich werden,<lb/>
wie ich dies anderwärts auseinander gesetzt habe. Man<lb/>
hat deshalb nicht nöthig, dieselben für mehr zu halten<lb/>
als für Gedankendinge.<note xml:id="a464" next="#b464" place="foot" n="1">Bekanntlich hat sich durch die Bemühungen von Loba-<lb/>
tschefsky, Bolyai, Gauss, Riemann allmählich die Einsicht<lb/>
Bahn gebrochen, dass dasjenige, was wir <hi rendition="#g">Raum</hi> nennen, ein<lb/><hi rendition="#g">specieller wirklicher</hi> Fall eines <hi rendition="#g">allgemeineren<lb/>
denkbaren</hi> Falles mehrfacher quantitativer Mannichfaltig-<lb/>
keit sei. Der Raum des Gesichtes und Getastes ist eine<lb/><hi rendition="#g">dreifache</hi> Mannichfaltigkeit, er hat drei Dimensionen, jeder<lb/>
Ort in demselben kann durch drei voneinander unabhängige<lb/>
Merkmale bestimmt werden. Es ist nun eine vierfache, oder<lb/>
noch mehrfache raumähnliche Mannichfaltigkeit <hi rendition="#g">denkbar</hi>.<lb/>
Und auch die Art der Mannichfaltigkeit kann anders <hi rendition="#g">gedacht</hi><lb/>
werden, als sie im gegebenen Raum angetroffen wird. Wir<lb/>
halten diese Aufklärung, um die sich Riemann am meisten<lb/>
verdient gemacht hat, für sehr wichtig. Die Eigenschaften<lb/>
des gegebenen Raumes erscheinen sofort als Objecte der <hi rendition="#g">Er-<lb/>
fahrung</hi>, und alle geometrischen Pseudotheorien, welche<lb/>
dieselben herausphilosophiren wollen, entfallen.<lb/>
Einem Wesen, welches in der Kugelfläche leben würde<lb/>
und keinen andern Raum zum Vergleich hätte, würde sein</note></p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[464/0476] Fünftes Kapitel. Function, wie gewisse mathematische Hülfsvorstellungen, sie ist ein mathematisches Modell zur Darstellung der Thatsachen. Wenn man auch die Schwingungen durch Sinusformeln, die Abkühlungsvorgänge durch Exponen- zielle, die Fallräume durch Quadrate der Zeiten dar- stellt, so denkt doch niemand daran, dass die Schwingung an sich mit einer Winkel- oder Kreisfunction, der Fall an sich mit dem Quadriren etwas zu schaffen hat. Man hat eben bemerkt, dass zwischen den beobachteten Grössen ähnliche Beziehungen stattfinden wie zwischen gewissen uns geläufigen Functionen, und benutzt diese geläufigern Vorstellungen zur bequemen Ergänzung der Erfahrung. Naturerscheinungen, welche in ihren Be- ziehungen nicht jenen der uns geläufigen Functionen gleichen, sind jetzt sehr schwer darzustellen. Das kann anders werden mit den Fortschritten der Mathematik. — Als solche mathematische Hülfsvorstellungen können auch Räume von mehr als drei Dimensionen nützlich werden, wie ich dies anderwärts auseinander gesetzt habe. Man hat deshalb nicht nöthig, dieselben für mehr zu halten als für Gedankendinge. 1 1 Bekanntlich hat sich durch die Bemühungen von Loba- tschefsky, Bolyai, Gauss, Riemann allmählich die Einsicht Bahn gebrochen, dass dasjenige, was wir Raum nennen, ein specieller wirklicher Fall eines allgemeineren denkbaren Falles mehrfacher quantitativer Mannichfaltig- keit sei. Der Raum des Gesichtes und Getastes ist eine dreifache Mannichfaltigkeit, er hat drei Dimensionen, jeder Ort in demselben kann durch drei voneinander unabhängige Merkmale bestimmt werden. Es ist nun eine vierfache, oder noch mehrfache raumähnliche Mannichfaltigkeit denkbar. Und auch die Art der Mannichfaltigkeit kann anders gedacht werden, als sie im gegebenen Raum angetroffen wird. Wir halten diese Aufklärung, um die sich Riemann am meisten verdient gemacht hat, für sehr wichtig. Die Eigenschaften des gegebenen Raumes erscheinen sofort als Objecte der Er- fahrung, und alle geometrischen Pseudotheorien, welche dieselben herausphilosophiren wollen, entfallen. Einem Wesen, welches in der Kugelfläche leben würde und keinen andern Raum zum Vergleich hätte, würde sein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/476
Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/476>, abgerufen am 27.04.2024.