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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Die formelle Entwickelung der Mechanik.
scheinungen bei weiterer Abkürzung plötzlich in neue
übergehen, so würde die Vorstellung der Schwingung
nichts mehr nützen, weil dieselbe kein Mittel mehr
bieten würde, die neuen Erfahrungen durch die frühern
zu ergänzen.

Wenn wir zu den wahrnehmbaren Handlungen der
Menschen uns unwahrnehmbare Empfindungen und Ge-
danken, ähnlich den unserigen, hinzudenken, so hat
diese Vorstellung einen ökonomischen Werth, indem sie
uns die Erfahrung verständlich macht, d. h. ergänzt
und erspart. Diese Vorstellung wird nur deshalb nicht
als eine grosse wissenschaftliche Entdeckung betrachtet.
weil sie sich so mächtig aufdrängt, dass jedes Kind sie
findet. Man verfährt ganz ähnlich, wenn man sich
einen eben hinter einer Säule verschwundenen bewegten
Körper, oder einen eben nicht sichtbaren Kometen mit
allen seinen vorher beobachteten Eigenschaften in seiner
Bahn fortbewegt denkt, um durch das Wiedererscheinen
nicht überrascht zu werden. Man füllt die Erfahrungs-
lücken durch die Vorstellungen aus, welche eben die
Erfahrung an die Hand gegeben hat.

9. Nicht jede bestehende wissenschaftliche Theorie
ergibt sich so natürlich und ungekünstelt. Wenn z. B.
chemische, elektrische, optische Erscheinungen durch
Atome erklärt werden, so hat sich die Hülfsvorstellung
der Atome nicht nach dem Princip der Continuität er-
geben, sie ist vielmehr für diesen Zweck eigens er-
funden. Atome können wir nirgends wahrnehmen, sie
sind wie alle Substanzen Gedankendinge. Ja, den Atomen
werden zum Theil Eigenschaften zugeschrieben, welche
allen bisher beobachteten widersprechen. Mögen die
Atomtheorien immerhin geeignet sein, eine Reihe von
Thatsachen darzustellen, die Naturforscher, welche New-
ton's Regeln des Philosophirens sich zu Herzen ge-
nommen haben, werden diese Theorien nur als provi-
sorische
Hülfsmittel gelten lassen, und einen Ersatz
durch eine natürlichere Anschauung anstreben.

Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähnliche

Die formelle Entwickelung der Mechanik.
scheinungen bei weiterer Abkürzung plötzlich in neue
übergehen, so würde die Vorstellung der Schwingung
nichts mehr nützen, weil dieselbe kein Mittel mehr
bieten würde, die neuen Erfahrungen durch die frühern
zu ergänzen.

Wenn wir zu den wahrnehmbaren Handlungen der
Menschen uns unwahrnehmbare Empfindungen und Ge-
danken, ähnlich den unserigen, hinzudenken, so hat
diese Vorstellung einen ökonomischen Werth, indem sie
uns die Erfahrung verständlich macht, d. h. ergänzt
und erspart. Diese Vorstellung wird nur deshalb nicht
als eine grosse wissenschaftliche Entdeckung betrachtet.
weil sie sich so mächtig aufdrängt, dass jedes Kind sie
findet. Man verfährt ganz ähnlich, wenn man sich
einen eben hinter einer Säule verschwundenen bewegten
Körper, oder einen eben nicht sichtbaren Kometen mit
allen seinen vorher beobachteten Eigenschaften in seiner
Bahn fortbewegt denkt, um durch das Wiedererscheinen
nicht überrascht zu werden. Man füllt die Erfahrungs-
lücken durch die Vorstellungen aus, welche eben die
Erfahrung an die Hand gegeben hat.

9. Nicht jede bestehende wissenschaftliche Theorie
ergibt sich so natürlich und ungekünstelt. Wenn z. B.
chemische, elektrische, optische Erscheinungen durch
Atome erklärt werden, so hat sich die Hülfsvorstellung
der Atome nicht nach dem Princip der Continuität er-
geben, sie ist vielmehr für diesen Zweck eigens er-
funden. Atome können wir nirgends wahrnehmen, sie
sind wie alle Substanzen Gedankendinge. Ja, den Atomen
werden zum Theil Eigenschaften zugeschrieben, welche
allen bisher beobachteten widersprechen. Mögen die
Atomtheorien immerhin geeignet sein, eine Reihe von
Thatsachen darzustellen, die Naturforscher, welche New-
ton’s Regeln des Philosophirens sich zu Herzen ge-
nommen haben, werden diese Theorien nur als provi-
sorische
Hülfsmittel gelten lassen, und einen Ersatz
durch eine natürlichere Anschauung anstreben.

Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähnliche

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[463/0475] Die formelle Entwickelung der Mechanik. scheinungen bei weiterer Abkürzung plötzlich in neue übergehen, so würde die Vorstellung der Schwingung nichts mehr nützen, weil dieselbe kein Mittel mehr bieten würde, die neuen Erfahrungen durch die frühern zu ergänzen. Wenn wir zu den wahrnehmbaren Handlungen der Menschen uns unwahrnehmbare Empfindungen und Ge- danken, ähnlich den unserigen, hinzudenken, so hat diese Vorstellung einen ökonomischen Werth, indem sie uns die Erfahrung verständlich macht, d. h. ergänzt und erspart. Diese Vorstellung wird nur deshalb nicht als eine grosse wissenschaftliche Entdeckung betrachtet. weil sie sich so mächtig aufdrängt, dass jedes Kind sie findet. Man verfährt ganz ähnlich, wenn man sich einen eben hinter einer Säule verschwundenen bewegten Körper, oder einen eben nicht sichtbaren Kometen mit allen seinen vorher beobachteten Eigenschaften in seiner Bahn fortbewegt denkt, um durch das Wiedererscheinen nicht überrascht zu werden. Man füllt die Erfahrungs- lücken durch die Vorstellungen aus, welche eben die Erfahrung an die Hand gegeben hat. 9. Nicht jede bestehende wissenschaftliche Theorie ergibt sich so natürlich und ungekünstelt. Wenn z. B. chemische, elektrische, optische Erscheinungen durch Atome erklärt werden, so hat sich die Hülfsvorstellung der Atome nicht nach dem Princip der Continuität er- geben, sie ist vielmehr für diesen Zweck eigens er- funden. Atome können wir nirgends wahrnehmen, sie sind wie alle Substanzen Gedankendinge. Ja, den Atomen werden zum Theil Eigenschaften zugeschrieben, welche allen bisher beobachteten widersprechen. Mögen die Atomtheorien immerhin geeignet sein, eine Reihe von Thatsachen darzustellen, die Naturforscher, welche New- ton’s Regeln des Philosophirens sich zu Herzen ge- nommen haben, werden diese Theorien nur als provi- sorische Hülfsmittel gelten lassen, und einen Ersatz durch eine natürlichere Anschauung anstreben. Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähnliche

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/475>, abgerufen am 27.04.2024.