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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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zogen. Die Urne schwebte höher und höher und erreichte
die Sonne. Die Priester griffen zu und zogen sie hinein.
Sie wurde von ihnen aufgestellt, und dann hingen sie sich
selbst an die Seile, um herabgelassen zu werden.

Nun gab der Khan das Zeichen, daß er sprechen
wolle. Er hielt eine kurze Rede. Seine langsam, deutlich
und sehr laut gesprochenen Worte klangen über das ganze
Thal dahin, und obgleich ich die wenigsten derselben ver-
stand, fühlte ich mich doch unter dem Eindrucke des außer-
gewöhnlichen Vorganges tief ergriffen. Als er geendet
hatte, begann der Chor der Priester einen freudigen Ge-
sang, von welchem ich nur den Refrain der einzelnen
Teile verstehen konnte: "Ro dehele -- die Sonne geht
auf." Bei dem letzten Tone erhoben alle die Hände, und
da krachte aus allen Gewehren eine Salve, wie ich eine
solche noch nie gehört hatte.

Damit war die eigentliche Feierlichkeit beendet. Nun
aber begann sich das Leben erst zu regen. Es giebt nichts,
womit ich diese Nacht im Thale Idiz vergleichen könnte,
diese Nacht der Flammen und Fackeln zwischen himmelan
strebenden Felsen, diese Nacht der Fragen und Klagen
unter den Verachteten und Geschmähten, diese Nacht unter
den Bekennern einer Anbetungsform, deren Grundzug in
der irre geleiteten und daher unbefriedigten Sehnsucht nach
jenem Lichte besteht, das einst den drei Scheiks leuch-
tete, die, vielleicht aus dem nämlichen Lande, in dem ich
mich jetzt befand, nach Bethlehem pilgerten, um vor der
Krippe das Bekenntnis abzulegen: "Wir haben im Mor-
genlande seinen Stern gesehen und sind gekommen, ihn
anzubeten."

Ich saß bei den Priestern bis lange nach Mitter-
nacht; dann erloschen die Fackeln, und die Feuer fielen
zusammen. Nur die beiden Flammen am Denkmale brann-

zogen. Die Urne ſchwebte höher und höher und erreichte
die Sonne. Die Prieſter griffen zu und zogen ſie hinein.
Sie wurde von ihnen aufgeſtellt, und dann hingen ſie ſich
ſelbſt an die Seile, um herabgelaſſen zu werden.

Nun gab der Khan das Zeichen, daß er ſprechen
wolle. Er hielt eine kurze Rede. Seine langſam, deutlich
und ſehr laut geſprochenen Worte klangen über das ganze
Thal dahin, und obgleich ich die wenigſten derſelben ver-
ſtand, fühlte ich mich doch unter dem Eindrucke des außer-
gewöhnlichen Vorganges tief ergriffen. Als er geendet
hatte, begann der Chor der Prieſter einen freudigen Ge-
ſang, von welchem ich nur den Refrain der einzelnen
Teile verſtehen konnte: „Ro dehele — die Sonne geht
auf.“ Bei dem letzten Tone erhoben alle die Hände, und
da krachte aus allen Gewehren eine Salve, wie ich eine
ſolche noch nie gehört hatte.

Damit war die eigentliche Feierlichkeit beendet. Nun
aber begann ſich das Leben erſt zu regen. Es giebt nichts,
womit ich dieſe Nacht im Thale Idiz vergleichen könnte,
dieſe Nacht der Flammen und Fackeln zwiſchen himmelan
ſtrebenden Felſen, dieſe Nacht der Fragen und Klagen
unter den Verachteten und Geſchmähten, dieſe Nacht unter
den Bekennern einer Anbetungsform, deren Grundzug in
der irre geleiteten und daher unbefriedigten Sehnſucht nach
jenem Lichte beſteht, das einſt den drei Scheiks leuch-
tete, die, vielleicht aus dem nämlichen Lande, in dem ich
mich jetzt befand, nach Bethlehem pilgerten, um vor der
Krippe das Bekenntnis abzulegen: „Wir haben im Mor-
genlande ſeinen Stern geſehen und ſind gekommen, ihn
anzubeten.“

Ich ſaß bei den Prieſtern bis lange nach Mitter-
nacht; dann erloſchen die Fackeln, und die Feuer fielen
zuſammen. Nur die beiden Flammen am Denkmale brann-

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[107/0121] zogen. Die Urne ſchwebte höher und höher und erreichte die Sonne. Die Prieſter griffen zu und zogen ſie hinein. Sie wurde von ihnen aufgeſtellt, und dann hingen ſie ſich ſelbſt an die Seile, um herabgelaſſen zu werden. Nun gab der Khan das Zeichen, daß er ſprechen wolle. Er hielt eine kurze Rede. Seine langſam, deutlich und ſehr laut geſprochenen Worte klangen über das ganze Thal dahin, und obgleich ich die wenigſten derſelben ver- ſtand, fühlte ich mich doch unter dem Eindrucke des außer- gewöhnlichen Vorganges tief ergriffen. Als er geendet hatte, begann der Chor der Prieſter einen freudigen Ge- ſang, von welchem ich nur den Refrain der einzelnen Teile verſtehen konnte: „Ro dehele — die Sonne geht auf.“ Bei dem letzten Tone erhoben alle die Hände, und da krachte aus allen Gewehren eine Salve, wie ich eine ſolche noch nie gehört hatte. Damit war die eigentliche Feierlichkeit beendet. Nun aber begann ſich das Leben erſt zu regen. Es giebt nichts, womit ich dieſe Nacht im Thale Idiz vergleichen könnte, dieſe Nacht der Flammen und Fackeln zwiſchen himmelan ſtrebenden Felſen, dieſe Nacht der Fragen und Klagen unter den Verachteten und Geſchmähten, dieſe Nacht unter den Bekennern einer Anbetungsform, deren Grundzug in der irre geleiteten und daher unbefriedigten Sehnſucht nach jenem Lichte beſteht, das einſt den drei Scheiks leuch- tete, die, vielleicht aus dem nämlichen Lande, in dem ich mich jetzt befand, nach Bethlehem pilgerten, um vor der Krippe das Bekenntnis abzulegen: „Wir haben im Mor- genlande ſeinen Stern geſehen und ſind gekommen, ihn anzubeten.“ Ich ſaß bei den Prieſtern bis lange nach Mitter- nacht; dann erloſchen die Fackeln, und die Feuer fielen zuſammen. Nur die beiden Flammen am Denkmale brann-

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/121>, abgerufen am 27.04.2024.