Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

artig nach der größten Ausdehnung ihrer Macht
strebt. Zwei Extreme und Übel werden da gefunden
werden, wo der Mittelpunkt des Staats, die Cen¬
tralverwaltung schwankt, und da, wo es keinen Ge¬
genpunkt mehr gibt, wo die Verwaltung mit despo¬
tischer Consequenz alles beherrscht. In der Mitte
wird das einzige Gute liegen, die Freiheit der Mu¬
nicipalität bis auf einen gewissen Grad, und von da
an die Kraft der Centralgewalt. Jede gute Republik
hat eine solche Centralgewalt, jede gute Monarchie
eine solche Municipalfreiheit geschaffen. Weil jene
gemangelt, ist das deutsche Reich untergegangen;
weil diese gefehlt, ist in Frankreich die Revolution
ausgebrochen.

Zu dem natürlichen Interesse der Centralgewal¬
ten ist in der neuern Zeit noch ein wissenschaftliches
gekommen. Das Regieren ist eine Wissenschaft ge¬
worden, und diese stellt gleichsam ihre physikalischen
oder pädagogischen Experimente mit den Völ¬
kern
an. Alle Zweige der Staatsverwaltung sind
in System und Schule gebracht bis auf die Polizei
herab, und an die Stelle eines lebendigen Organis¬
mus tritt eine todte Staatsmechanik. Dasselbe Sy¬
stem, was nur für den größten Staat gilt, wendet
man komisch genug auch auf den kleinsten an; was
für ein phlegmatisches Volk gilt, auf ein cholerisches;
was für ein gebildetes gilt, auf ein rohes und um¬
gekehrt.

artig nach der groͤßten Ausdehnung ihrer Macht
ſtrebt. Zwei Extreme und Übel werden da gefunden
werden, wo der Mittelpunkt des Staats, die Cen¬
tralverwaltung ſchwankt, und da, wo es keinen Ge¬
genpunkt mehr gibt, wo die Verwaltung mit deſpo¬
tiſcher Conſequenz alles beherrſcht. In der Mitte
wird das einzige Gute liegen, die Freiheit der Mu¬
nicipalitaͤt bis auf einen gewiſſen Grad, und von da
an die Kraft der Centralgewalt. Jede gute Republik
hat eine ſolche Centralgewalt, jede gute Monarchie
eine ſolche Municipalfreiheit geſchaffen. Weil jene
gemangelt, iſt das deutſche Reich untergegangen;
weil dieſe gefehlt, iſt in Frankreich die Revolution
ausgebrochen.

Zu dem natuͤrlichen Intereſſe der Centralgewal¬
ten iſt in der neuern Zeit noch ein wiſſenſchaftliches
gekommen. Das Regieren iſt eine Wiſſenſchaft ge¬
worden, und dieſe ſtellt gleichſam ihre phyſikaliſchen
oder paͤdagogiſchen Experimente mit den Voͤl¬
kern
an. Alle Zweige der Staatsverwaltung ſind
in Syſtem und Schule gebracht bis auf die Polizei
herab, und an die Stelle eines lebendigen Organis¬
mus tritt eine todte Staatsmechanik. Daſſelbe Sy¬
ſtem, was nur fuͤr den groͤßten Staat gilt, wendet
man komiſch genug auch auf den kleinſten an; was
fuͤr ein phlegmatiſches Volk gilt, auf ein choleriſches;
was fuͤr ein gebildetes gilt, auf ein rohes und um¬
gekehrt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0255" n="245"/>
artig nach der gro&#x0364;ßten Ausdehnung ihrer Macht<lb/>
&#x017F;trebt. Zwei Extreme und Übel werden da gefunden<lb/>
werden, wo der Mittelpunkt des Staats, die Cen¬<lb/>
tralverwaltung &#x017F;chwankt, und da, wo es keinen Ge¬<lb/>
genpunkt mehr gibt, wo die Verwaltung mit de&#x017F;po¬<lb/>
ti&#x017F;cher Con&#x017F;equenz alles beherr&#x017F;cht. In der Mitte<lb/>
wird das einzige Gute liegen, die Freiheit der Mu¬<lb/>
nicipalita&#x0364;t bis auf einen gewi&#x017F;&#x017F;en Grad, und von da<lb/>
an die Kraft der Centralgewalt. Jede gute Republik<lb/>
hat eine &#x017F;olche Centralgewalt, jede gute Monarchie<lb/>
eine &#x017F;olche Municipalfreiheit ge&#x017F;chaffen. Weil jene<lb/>
gemangelt, i&#x017F;t das deut&#x017F;che Reich untergegangen;<lb/>
weil die&#x017F;e gefehlt, i&#x017F;t in Frankreich die Revolution<lb/>
ausgebrochen.</p><lb/>
        <p>Zu dem natu&#x0364;rlichen Intere&#x017F;&#x017F;e der Centralgewal¬<lb/>
ten i&#x017F;t in der neuern Zeit noch ein wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliches<lb/>
gekommen. Das Regieren i&#x017F;t eine Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft ge¬<lb/>
worden, und die&#x017F;e &#x017F;tellt gleich&#x017F;am ihre phy&#x017F;ikali&#x017F;chen<lb/>
oder pa&#x0364;dagogi&#x017F;chen <hi rendition="#g">Experimente mit den Vo&#x0364;<lb/>
kern</hi> an. Alle Zweige der Staatsverwaltung &#x017F;ind<lb/>
in Sy&#x017F;tem und Schule gebracht bis auf die Polizei<lb/>
herab, und an die Stelle eines lebendigen Organis¬<lb/>
mus tritt eine todte Staatsmechanik. Da&#x017F;&#x017F;elbe Sy¬<lb/>
&#x017F;tem, was nur fu&#x0364;r den gro&#x0364;ßten Staat gilt, wendet<lb/>
man komi&#x017F;ch genug auch auf den klein&#x017F;ten an; was<lb/>
fu&#x0364;r ein phlegmati&#x017F;ches Volk gilt, auf ein choleri&#x017F;ches;<lb/>
was fu&#x0364;r ein gebildetes gilt, auf ein rohes und um¬<lb/>
gekehrt.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[245/0255] artig nach der groͤßten Ausdehnung ihrer Macht ſtrebt. Zwei Extreme und Übel werden da gefunden werden, wo der Mittelpunkt des Staats, die Cen¬ tralverwaltung ſchwankt, und da, wo es keinen Ge¬ genpunkt mehr gibt, wo die Verwaltung mit deſpo¬ tiſcher Conſequenz alles beherrſcht. In der Mitte wird das einzige Gute liegen, die Freiheit der Mu¬ nicipalitaͤt bis auf einen gewiſſen Grad, und von da an die Kraft der Centralgewalt. Jede gute Republik hat eine ſolche Centralgewalt, jede gute Monarchie eine ſolche Municipalfreiheit geſchaffen. Weil jene gemangelt, iſt das deutſche Reich untergegangen; weil dieſe gefehlt, iſt in Frankreich die Revolution ausgebrochen. Zu dem natuͤrlichen Intereſſe der Centralgewal¬ ten iſt in der neuern Zeit noch ein wiſſenſchaftliches gekommen. Das Regieren iſt eine Wiſſenſchaft ge¬ worden, und dieſe ſtellt gleichſam ihre phyſikaliſchen oder paͤdagogiſchen Experimente mit den Voͤl¬ kern an. Alle Zweige der Staatsverwaltung ſind in Syſtem und Schule gebracht bis auf die Polizei herab, und an die Stelle eines lebendigen Organis¬ mus tritt eine todte Staatsmechanik. Daſſelbe Sy¬ ſtem, was nur fuͤr den groͤßten Staat gilt, wendet man komiſch genug auch auf den kleinſten an; was fuͤr ein phlegmatiſches Volk gilt, auf ein choleriſches; was fuͤr ein gebildetes gilt, auf ein rohes und um¬ gekehrt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/255
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/255>, abgerufen am 30.04.2024.