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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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oder dem Volke selbst, wenn im Leben doch jeder mit
dieser Kenntniß sich passiv verhalten und von der
Kaste nehmen muß, was sie will? Das hieße, die
Kinder zum Protestantismus erziehn und sie doch die
katholischen Gebräuche machen lassen.

Das römische und die von ihm abgeleiteten Rechte
werden insbesondre noch durch die lateinische
Sprache
unpopulär. Es ist bekannt, welchen leb¬
haften Widerstand die römischen Advokaten das er¬
stemal unter Varus an der Weser, das zweitemal
anderthalbtausend Jahr später im Mittelalter gefun¬
den, und noch jetzt ist dem Volk der römische Rechts¬
gang, dessen Terminologien ihm völlig unverständlich
sind, durchaus zuwider. Die Sprache hat das Recht
aus dem Gewissen an dem Verstand der Kaste und
die Rechtspflege aus dem Leben ins Papier, in die
Bureaukratie verwiesen.

Der ganze unförmliche Bau des mittelalterlichen
Rechts, jene zahllosen Kirchen-, Lehn-, Kaiser-,
Land-, Stadt- und Bauernrechte und die Nebenge¬
bäude der Standes- und Personalprivilegien, sind
endlich zusammengestürzt, aber es sind namhafte Rui¬
nen stehn geblieben, an welche man neue Wohnun¬
gen angeklebt hat, unfähig oder zu bequem, einen
ganz neuen Grund zu legen. Ein seltsames Gemisch
von Gesetzbüchern ist entstanden, das den Anblick
alter Städte gewährt, wo schwarze gothische Trüm¬
mer neben neugeweißten Lusthäusern stehn. Fürsten¬
tage haben die Kaisermacht, Concordate die Papst¬

oder dem Volke ſelbſt, wenn im Leben doch jeder mit
dieſer Kenntniß ſich paſſiv verhalten und von der
Kaſte nehmen muß, was ſie will? Das hieße, die
Kinder zum Proteſtantismus erziehn und ſie doch die
katholiſchen Gebraͤuche machen laſſen.

Das roͤmiſche und die von ihm abgeleiteten Rechte
werden insbeſondre noch durch die lateiniſche
Sprache
unpopulaͤr. Es iſt bekannt, welchen leb¬
haften Widerſtand die roͤmiſchen Advokaten das er¬
ſtemal unter Varus an der Weſer, das zweitemal
anderthalbtauſend Jahr ſpaͤter im Mittelalter gefun¬
den, und noch jetzt iſt dem Volk der roͤmiſche Rechts¬
gang, deſſen Terminologien ihm voͤllig unverſtaͤndlich
ſind, durchaus zuwider. Die Sprache hat das Recht
aus dem Gewiſſen an dem Verſtand der Kaſte und
die Rechtspflege aus dem Leben ins Papier, in die
Bureaukratie verwieſen.

Der ganze unfoͤrmliche Bau des mittelalterlichen
Rechts, jene zahlloſen Kirchen-, Lehn-, Kaiſer-,
Land-, Stadt- und Bauernrechte und die Nebenge¬
baͤude der Standes- und Perſonalprivilegien, ſind
endlich zuſammengeſtuͤrzt, aber es ſind namhafte Rui¬
nen ſtehn geblieben, an welche man neue Wohnun¬
gen angeklebt hat, unfaͤhig oder zu bequem, einen
ganz neuen Grund zu legen. Ein ſeltſames Gemiſch
von Geſetzbuͤchern iſt entſtanden, das den Anblick
alter Staͤdte gewaͤhrt, wo ſchwarze gothiſche Truͤm¬
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[254/0264] oder dem Volke ſelbſt, wenn im Leben doch jeder mit dieſer Kenntniß ſich paſſiv verhalten und von der Kaſte nehmen muß, was ſie will? Das hieße, die Kinder zum Proteſtantismus erziehn und ſie doch die katholiſchen Gebraͤuche machen laſſen. Das roͤmiſche und die von ihm abgeleiteten Rechte werden insbeſondre noch durch die lateiniſche Sprache unpopulaͤr. Es iſt bekannt, welchen leb¬ haften Widerſtand die roͤmiſchen Advokaten das er¬ ſtemal unter Varus an der Weſer, das zweitemal anderthalbtauſend Jahr ſpaͤter im Mittelalter gefun¬ den, und noch jetzt iſt dem Volk der roͤmiſche Rechts¬ gang, deſſen Terminologien ihm voͤllig unverſtaͤndlich ſind, durchaus zuwider. Die Sprache hat das Recht aus dem Gewiſſen an dem Verſtand der Kaſte und die Rechtspflege aus dem Leben ins Papier, in die Bureaukratie verwieſen. Der ganze unfoͤrmliche Bau des mittelalterlichen Rechts, jene zahlloſen Kirchen-, Lehn-, Kaiſer-, Land-, Stadt- und Bauernrechte und die Nebenge¬ baͤude der Standes- und Perſonalprivilegien, ſind endlich zuſammengeſtuͤrzt, aber es ſind namhafte Rui¬ nen ſtehn geblieben, an welche man neue Wohnun¬ gen angeklebt hat, unfaͤhig oder zu bequem, einen ganz neuen Grund zu legen. Ein ſeltſames Gemiſch von Geſetzbuͤchern iſt entſtanden, das den Anblick alter Staͤdte gewaͤhrt, wo ſchwarze gothiſche Truͤm¬ mer neben neugeweißten Luſthaͤuſern ſtehn. Fuͤrſten¬ tage haben die Kaiſermacht, Concordate die Papſt¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/264>, abgerufen am 30.04.2024.