einen Namen davon zu tragen. Gegen diese Sünd¬ fluth von Kinderschriften kämpft dann der echte Kin¬ derfreund vergeblich an.
Es ist merkwürdig, daß diese Schriften mehr auf die Alten, als auf die Kinder selbst berechnet werden, weil die Alten sie eben auswählen und be¬ zahlen, und nur wenige Takt genug besitzen, um zu wissen, was dem kindlichen Gemüthe zusagt. Damit ist die Philisterei und die altkluge Moral in die Bü¬ cher, selbst des zartesten Jugendalters gekommen. Die Alten wollen etwas Solides, Vernünftiges, und dar¬ um müssen es die armen Kinder auch wollen, genug, wenn sie nur bunte,Bildchen dabei sehn. Die Mähr¬ chen, diese echte Kinderpoesie, sind lange verachtet und verdammt gewesen. Was sollen diese Kindereien? hieß es, und man hatte doch Kinder vor sich. Man fürchtete, die Mährchen pflanzten der kindlichen Seele Aberglauben ein, oder wenigstens, sie beschäftigten die Phantasie zu stark und zögen vom Lernen ab. Man erfand daher die lehrreichen Erzählungen und Beispiele aus der wirklichen Kinderwelt, vom from¬ men Gottlieb, vom neugierigen Fränzchen und nasch¬ haften Lottchen, und erstickte mit dieser Alltagsprosa alle natürliche Poesie in den Kindern. Während man ihnen aber alles Schöne nahm, wofür ihre jungen Herzen so empfänglich sind, und woran sie sich wahr¬ haft menschlich bilden, mißbrauchte man ihr Herz, wie ihre Phantasie, um damit ihren noch unentwickel¬ ten Verstand zu bearbeiten. Alle in der Jugend auf¬
einen Namen davon zu tragen. Gegen dieſe Suͤnd¬ fluth von Kinderſchriften kaͤmpft dann der echte Kin¬ derfreund vergeblich an.
Es iſt merkwuͤrdig, daß dieſe Schriften mehr auf die Alten, als auf die Kinder ſelbſt berechnet werden, weil die Alten ſie eben auswaͤhlen und be¬ zahlen, und nur wenige Takt genug beſitzen, um zu wiſſen, was dem kindlichen Gemuͤthe zuſagt. Damit iſt die Philiſterei und die altkluge Moral in die Buͤ¬ cher, ſelbſt des zarteſten Jugendalters gekommen. Die Alten wollen etwas Solides, Vernuͤnftiges, und dar¬ um muͤſſen es die armen Kinder auch wollen, genug, wenn ſie nur bunte,Bildchen dabei ſehn. Die Maͤhr¬ chen, dieſe echte Kinderpoeſie, ſind lange verachtet und verdammt geweſen. Was ſollen dieſe Kindereien? hieß es, und man hatte doch Kinder vor ſich. Man fuͤrchtete, die Maͤhrchen pflanzten der kindlichen Seele Aberglauben ein, oder wenigſtens, ſie beſchaͤftigten die Phantaſie zu ſtark und zoͤgen vom Lernen ab. Man erfand daher die lehrreichen Erzaͤhlungen und Beiſpiele aus der wirklichen Kinderwelt, vom from¬ men Gottlieb, vom neugierigen Fraͤnzchen und naſch¬ haften Lottchen, und erſtickte mit dieſer Alltagsproſa alle natuͤrliche Poeſie in den Kindern. Waͤhrend man ihnen aber alles Schoͤne nahm, wofuͤr ihre jungen Herzen ſo empfaͤnglich ſind, und woran ſie ſich wahr¬ haft menſchlich bilden, mißbrauchte man ihr Herz, wie ihre Phantaſie, um damit ihren noch unentwickel¬ ten Verſtand zu bearbeiten. Alle in der Jugend auf¬
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einen Namen davon zu tragen. Gegen dieſe Suͤnd¬
fluth von Kinderſchriften kaͤmpft dann der echte Kin¬
derfreund vergeblich an.
Es iſt merkwuͤrdig, daß dieſe Schriften mehr
auf die Alten, als auf die Kinder ſelbſt berechnet
werden, weil die Alten ſie eben auswaͤhlen und be¬
zahlen, und nur wenige Takt genug beſitzen, um zu
wiſſen, was dem kindlichen Gemuͤthe zuſagt. Damit
iſt die Philiſterei und die altkluge Moral in die Buͤ¬
cher, ſelbſt des zarteſten Jugendalters gekommen. Die
Alten wollen etwas Solides, Vernuͤnftiges, und dar¬
um muͤſſen es die armen Kinder auch wollen, genug,
wenn ſie nur bunte,Bildchen dabei ſehn. Die Maͤhr¬
chen, dieſe echte Kinderpoeſie, ſind lange verachtet
und verdammt geweſen. Was ſollen dieſe Kindereien?
hieß es, und man hatte doch Kinder vor ſich. Man
fuͤrchtete, die Maͤhrchen pflanzten der kindlichen Seele
Aberglauben ein, oder wenigſtens, ſie beſchaͤftigten
die Phantaſie zu ſtark und zoͤgen vom Lernen ab.
Man erfand daher die lehrreichen Erzaͤhlungen und
Beiſpiele aus der wirklichen Kinderwelt, vom from¬
men Gottlieb, vom neugierigen Fraͤnzchen und naſch¬
haften Lottchen, und erſtickte mit dieſer Alltagsproſa
alle natuͤrliche Poeſie in den Kindern. Waͤhrend man
ihnen aber alles Schoͤne nahm, wofuͤr ihre jungen
Herzen ſo empfaͤnglich ſind, und woran ſie ſich wahr¬
haft menſchlich bilden, mißbrauchte man ihr Herz,
wie ihre Phantaſie, um damit ihren noch unentwickel¬
ten Verſtand zu bearbeiten. Alle in der Jugend auf¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/282>, abgerufen am 30.04.2024.
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