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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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Regel thun, und wie gut, edel, liebenswürdig sie von
Natur sind, man achtet es nicht, bis man ihnen eine
schaale Reflexion darüber beigebracht hat, bis ihnen
der Drang der Natur in einen geistlosen Gehorsam
gegen das Pflichtgebot verkrüppelt ist. Und welcher
Pflichten? was drängt man nicht alles den unbefang¬
nen Gemüthern auf? Man stellt ihnen nicht nur das
Laster, sondern auch die Tugend vor Augen, ehe sie
im Stande sind, sie auszuüben, ja nur zu erkennen,
und man überladet sie mit Regeln, wovon sie eine
über der andern vergessen. Wie gegen die natür¬
liche Moral der Kinder, so wüthet man gegen die
natürliche Religion derselben. Auch über die Gegen¬
stände der Religion müssen sie so früh als möglich
reflectiren, und man quält ihnen Gedanken ab, ehe
noch ihr Gefühl reif geworden. Eine Zeitlang war
man sogar bemüht, ihnen das Wunderbare in der
Religion verdächtig zu machen, um sie vor Aberglau¬
ben zu bewahren. Jetzt hat man meistentheils einen
heillosen Mittelweg eingeschlagen. Man wagt es we¬
der ganz zu glauben, noch ganz zu zweifeln, und
stürzt die Jugend in eine Halbheit, aus der nur drei
Übel entspringen können, die alle drei der Religion
am gefährlichsten sind, Indifferentismus, der aus der
Langweiligkeit und Unsicherheit des Religionsunter¬
richts entspringt, Religionsspötterei oder Rückfall in
den crassesten Aberglauben, wenn man sich aus der
Halbheit auf diese oder jene Weise retten will.

Regel thun, und wie gut, edel, liebenswuͤrdig ſie von
Natur ſind, man achtet es nicht, bis man ihnen eine
ſchaale Reflexion daruͤber beigebracht hat, bis ihnen
der Drang der Natur in einen geiſtloſen Gehorſam
gegen das Pflichtgebot verkruͤppelt iſt. Und welcher
Pflichten? was draͤngt man nicht alles den unbefang¬
nen Gemuͤthern auf? Man ſtellt ihnen nicht nur das
Laſter, ſondern auch die Tugend vor Augen, ehe ſie
im Stande ſind, ſie auszuuͤben, ja nur zu erkennen,
und man uͤberladet ſie mit Regeln, wovon ſie eine
uͤber der andern vergeſſen. Wie gegen die natuͤr¬
liche Moral der Kinder, ſo wuͤthet man gegen die
natuͤrliche Religion derſelben. Auch uͤber die Gegen¬
ſtaͤnde der Religion muͤſſen ſie ſo fruͤh als moͤglich
reflectiren, und man quaͤlt ihnen Gedanken ab, ehe
noch ihr Gefuͤhl reif geworden. Eine Zeitlang war
man ſogar bemuͤht, ihnen das Wunderbare in der
Religion verdaͤchtig zu machen, um ſie vor Aberglau¬
ben zu bewahren. Jetzt hat man meiſtentheils einen
heilloſen Mittelweg eingeſchlagen. Man wagt es we¬
der ganz zu glauben, noch ganz zu zweifeln, und
ſtuͤrzt die Jugend in eine Halbheit, aus der nur drei
Übel entſpringen koͤnnen, die alle drei der Religion
am gefaͤhrlichſten ſind, Indifferentismus, der aus der
Langweiligkeit und Unſicherheit des Religionsunter¬
richts entſpringt, Religionsſpoͤtterei oder Ruͤckfall in
den craſſeſten Aberglauben, wenn man ſich aus der
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[275/0285] Regel thun, und wie gut, edel, liebenswuͤrdig ſie von Natur ſind, man achtet es nicht, bis man ihnen eine ſchaale Reflexion daruͤber beigebracht hat, bis ihnen der Drang der Natur in einen geiſtloſen Gehorſam gegen das Pflichtgebot verkruͤppelt iſt. Und welcher Pflichten? was draͤngt man nicht alles den unbefang¬ nen Gemuͤthern auf? Man ſtellt ihnen nicht nur das Laſter, ſondern auch die Tugend vor Augen, ehe ſie im Stande ſind, ſie auszuuͤben, ja nur zu erkennen, und man uͤberladet ſie mit Regeln, wovon ſie eine uͤber der andern vergeſſen. Wie gegen die natuͤr¬ liche Moral der Kinder, ſo wuͤthet man gegen die natuͤrliche Religion derſelben. Auch uͤber die Gegen¬ ſtaͤnde der Religion muͤſſen ſie ſo fruͤh als moͤglich reflectiren, und man quaͤlt ihnen Gedanken ab, ehe noch ihr Gefuͤhl reif geworden. Eine Zeitlang war man ſogar bemuͤht, ihnen das Wunderbare in der Religion verdaͤchtig zu machen, um ſie vor Aberglau¬ ben zu bewahren. Jetzt hat man meiſtentheils einen heilloſen Mittelweg eingeſchlagen. Man wagt es we¬ der ganz zu glauben, noch ganz zu zweifeln, und ſtuͤrzt die Jugend in eine Halbheit, aus der nur drei Übel entſpringen koͤnnen, die alle drei der Religion am gefaͤhrlichſten ſind, Indifferentismus, der aus der Langweiligkeit und Unſicherheit des Religionsunter¬ richts entſpringt, Religionsſpoͤtterei oder Ruͤckfall in den craſſeſten Aberglauben, wenn man ſich aus der Halbheit auf dieſe oder jene Weiſe retten will.

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/285>, abgerufen am 30.04.2024.