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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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Schreiten wir weiter zu den Unterrichtsbüchern
der erwachsenen Jugend, so bemerken wir darin ein
sonderbares Mißverhältniß zu dem frühern Unter¬
richt. Man zwingt den Kindern ein unreifes Den¬
ken ab, und die Jünglinge, die zum Denken wirklich
heranreifen, werden davon fern gehalten durch eine
trostlose Überladung mit blos empirischen, gedächt¬
nißmäßigen Kenntnissen. Überall fehlt die Einheit
und Einfachheit der Methode, der klare Überblick,
das logische Gebäude.

Die meisten Schulbücher, in welches Fach sie
einschlagen mögen, bieten dem Jüngling eine unge¬
ordnete Masse von Thatsachen dar, die er sich zu
eigen machen soll, ohne daß ihm der Talisman einer
ursprünglichen Causalität mitgegeben würde, durch
die er sich einfach so vieler Schätze bemeistern könnte.
Er lernt die Religion und Moral am Faden unzu¬
sammenhängender Artikel, die Geschichte am Faden der
Jahrszahlen, die Naturkunde am Faden der rohesten
äußern Eintheilungen, die Sprache am Faden von
tausend Regeln und zehntausend Ausnahmen. Bei
einem solchen Verfahren wird nur das Gedächtniß in
Anspruch genommen, dasselbe Gedächtniß, das dem
Kinde verwirrt wurde durch zu frühes Denken, und
der Unterricht tritt in ein umgekehrtes Verhältniß
mit der Natur. Was hilft aber auch das beste Ge¬
dächtniß, wenn nicht eigne Genialität die Formel
finden läßt, unter welche das Convolut von empiri¬
schen Kenntnissen gebannt wird? Nur wenige gelan¬

Schreiten wir weiter zu den Unterrichtsbuͤchern
der erwachſenen Jugend, ſo bemerken wir darin ein
ſonderbares Mißverhaͤltniß zu dem fruͤhern Unter¬
richt. Man zwingt den Kindern ein unreifes Den¬
ken ab, und die Juͤnglinge, die zum Denken wirklich
heranreifen, werden davon fern gehalten durch eine
troſtloſe Überladung mit blos empiriſchen, gedaͤcht¬
nißmaͤßigen Kenntniſſen. Überall fehlt die Einheit
und Einfachheit der Methode, der klare Überblick,
das logiſche Gebaͤude.

Die meiſten Schulbuͤcher, in welches Fach ſie
einſchlagen moͤgen, bieten dem Juͤngling eine unge¬
ordnete Maſſe von Thatſachen dar, die er ſich zu
eigen machen ſoll, ohne daß ihm der Talisman einer
urſpruͤnglichen Cauſalitaͤt mitgegeben wuͤrde, durch
die er ſich einfach ſo vieler Schaͤtze bemeiſtern koͤnnte.
Er lernt die Religion und Moral am Faden unzu¬
ſammenhaͤngender Artikel, die Geſchichte am Faden der
Jahrszahlen, die Naturkunde am Faden der roheſten
aͤußern Eintheilungen, die Sprache am Faden von
tauſend Regeln und zehntauſend Ausnahmen. Bei
einem ſolchen Verfahren wird nur das Gedaͤchtniß in
Anſpruch genommen, daſſelbe Gedaͤchtniß, das dem
Kinde verwirrt wurde durch zu fruͤhes Denken, und
der Unterricht tritt in ein umgekehrtes Verhaͤltniß
mit der Natur. Was hilft aber auch das beſte Ge¬
daͤchtniß, wenn nicht eigne Genialitaͤt die Formel
finden laͤßt, unter welche das Convolut von empiri¬
ſchen Kenntniſſen gebannt wird? Nur wenige gelan¬

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[276/0286] Schreiten wir weiter zu den Unterrichtsbuͤchern der erwachſenen Jugend, ſo bemerken wir darin ein ſonderbares Mißverhaͤltniß zu dem fruͤhern Unter¬ richt. Man zwingt den Kindern ein unreifes Den¬ ken ab, und die Juͤnglinge, die zum Denken wirklich heranreifen, werden davon fern gehalten durch eine troſtloſe Überladung mit blos empiriſchen, gedaͤcht¬ nißmaͤßigen Kenntniſſen. Überall fehlt die Einheit und Einfachheit der Methode, der klare Überblick, das logiſche Gebaͤude. Die meiſten Schulbuͤcher, in welches Fach ſie einſchlagen moͤgen, bieten dem Juͤngling eine unge¬ ordnete Maſſe von Thatſachen dar, die er ſich zu eigen machen ſoll, ohne daß ihm der Talisman einer urſpruͤnglichen Cauſalitaͤt mitgegeben wuͤrde, durch die er ſich einfach ſo vieler Schaͤtze bemeiſtern koͤnnte. Er lernt die Religion und Moral am Faden unzu¬ ſammenhaͤngender Artikel, die Geſchichte am Faden der Jahrszahlen, die Naturkunde am Faden der roheſten aͤußern Eintheilungen, die Sprache am Faden von tauſend Regeln und zehntauſend Ausnahmen. Bei einem ſolchen Verfahren wird nur das Gedaͤchtniß in Anſpruch genommen, daſſelbe Gedaͤchtniß, das dem Kinde verwirrt wurde durch zu fruͤhes Denken, und der Unterricht tritt in ein umgekehrtes Verhaͤltniß mit der Natur. Was hilft aber auch das beſte Ge¬ daͤchtniß, wenn nicht eigne Genialitaͤt die Formel finden laͤßt, unter welche das Convolut von empiri¬ ſchen Kenntniſſen gebannt wird? Nur wenige gelan¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/286>, abgerufen am 30.04.2024.