Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

müßten diese Dinge nicht anders, denn als Mysterien
gehört werden, von so wenigen als möglich, welche
dazu vorher nicht ein schlechtes Schweinferkel, son¬
dern ein gewisses großes und kostbares Opfer ge¬
bracht haben müßten, damit so wenige als möglich
von solchen Sachen zu hören Gelegenheit hätten."
Es ist wahr, daß sich jene geheimnißvolle Wahlver¬
wandtschaft, das Princip des Ehebruchs, es ist wahr,
daß sich Gelüste, dergleichen in der Stella geschildert
sind, wirklich in der Natur vorfinden, aber als Aus¬
wüchse, und wir sollen uns über die Natur, oder
vielmehr über die Unnatur dieser Dinge nicht durch
eine einnehmende poetische Beschönigung, durch eine
Verwechslung derselben mit den heiligsten Gefühlen
reiner Liebe täuschen lassen, denn, wie Plato weiter
fortfährt: "Niemand will in seinem herrlichsten Theile
und über die höchsten Dinge gern einer Lüge Raum
geben."

Noch müssen wir jener Grausamkeit gedenken,
welche mit zum feinen Genuß gehört. Göthe schil¬
dert mit Vorliebe die menschlichen Schwächen und
Vorurtheile, und weidet sich an den daraus entsprin¬
genden Leiden, so im Werther, Clavigo, Tasso, der
natürlichen Tochter, den Wahlverwandtschaften etc.
Die grausame Wollust liegt darin, daß der Dichter
sich an den Verschuldungen und Leiden ergötzt, ohne
sie durch irgend etwas zu versöhnen. Oft erscheint
diese Grausamkeit absichtlich, oft nur unwillkürlich
als Folge der Gleichgültigkeit, mit welcher der Dich¬

muͤßten dieſe Dinge nicht anders, denn als Myſterien
gehoͤrt werden, von ſo wenigen als moͤglich, welche
dazu vorher nicht ein ſchlechtes Schweinferkel, ſon¬
dern ein gewiſſes großes und koſtbares Opfer ge¬
bracht haben muͤßten, damit ſo wenige als moͤglich
von ſolchen Sachen zu hoͤren Gelegenheit haͤtten.“
Es iſt wahr, daß ſich jene geheimnißvolle Wahlver¬
wandtſchaft, das Princip des Ehebruchs, es iſt wahr,
daß ſich Geluͤſte, dergleichen in der Stella geſchildert
ſind, wirklich in der Natur vorfinden, aber als Aus¬
wuͤchſe, und wir ſollen uns uͤber die Natur, oder
vielmehr uͤber die Unnatur dieſer Dinge nicht durch
eine einnehmende poetiſche Beſchoͤnigung, durch eine
Verwechslung derſelben mit den heiligſten Gefuͤhlen
reiner Liebe taͤuſchen laſſen, denn, wie Plato weiter
fortfaͤhrt: »Niemand will in ſeinem herrlichſten Theile
und uͤber die hoͤchſten Dinge gern einer Luͤge Raum
geben.«

Noch muͤſſen wir jener Grauſamkeit gedenken,
welche mit zum feinen Genuß gehoͤrt. Goͤthe ſchil¬
dert mit Vorliebe die menſchlichen Schwaͤchen und
Vorurtheile, und weidet ſich an den daraus entſprin¬
genden Leiden, ſo im Werther, Clavigo, Taſſo, der
natuͤrlichen Tochter, den Wahlverwandtſchaften ꝛc.
Die grauſame Wolluſt liegt darin, daß der Dichter
ſich an den Verſchuldungen und Leiden ergoͤtzt, ohne
ſie durch irgend etwas zu verſoͤhnen. Oft erſcheint
dieſe Grauſamkeit abſichtlich, oft nur unwillkuͤrlich
als Folge der Gleichguͤltigkeit, mit welcher der Dich¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0234" n="224"/>
mu&#x0364;ßten die&#x017F;e Dinge nicht anders, denn als My&#x017F;terien<lb/>
geho&#x0364;rt werden, von &#x017F;o wenigen als mo&#x0364;glich, welche<lb/>
dazu vorher nicht ein &#x017F;chlechtes Schweinferkel, &#x017F;on¬<lb/>
dern ein gewi&#x017F;&#x017F;es großes und ko&#x017F;tbares Opfer ge¬<lb/>
bracht haben mu&#x0364;ßten, damit &#x017F;o wenige als mo&#x0364;glich<lb/>
von &#x017F;olchen Sachen zu ho&#x0364;ren Gelegenheit ha&#x0364;tten.&#x201C;<lb/>
Es i&#x017F;t wahr, daß &#x017F;ich jene geheimnißvolle Wahlver¬<lb/>
wandt&#x017F;chaft, das Princip des Ehebruchs, es i&#x017F;t wahr,<lb/>
daß &#x017F;ich Gelu&#x0364;&#x017F;te, dergleichen in der Stella ge&#x017F;childert<lb/>
&#x017F;ind, wirklich in der Natur vorfinden, aber als Aus¬<lb/>
wu&#x0364;ch&#x017F;e, und wir &#x017F;ollen uns u&#x0364;ber die Natur, oder<lb/>
vielmehr u&#x0364;ber die Unnatur die&#x017F;er Dinge nicht durch<lb/>
eine einnehmende poeti&#x017F;che <choice><sic>Be&#x017F;cho&#x0364;niguug</sic><corr>Be&#x017F;cho&#x0364;nigung</corr></choice>, durch eine<lb/>
Verwechslung der&#x017F;elben mit den heilig&#x017F;ten Gefu&#x0364;hlen<lb/>
reiner Liebe ta&#x0364;u&#x017F;chen la&#x017F;&#x017F;en, denn, wie Plato weiter<lb/>
fortfa&#x0364;hrt: »Niemand will in &#x017F;einem herrlich&#x017F;ten Theile<lb/>
und u&#x0364;ber die ho&#x0364;ch&#x017F;ten Dinge gern einer Lu&#x0364;ge Raum<lb/>
geben.«</p><lb/>
        <p>Noch mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir jener Grau&#x017F;amkeit gedenken,<lb/>
welche mit zum feinen Genuß geho&#x0364;rt. Go&#x0364;the &#x017F;chil¬<lb/>
dert mit Vorliebe die men&#x017F;chlichen Schwa&#x0364;chen und<lb/>
Vorurtheile, und weidet &#x017F;ich an den daraus ent&#x017F;prin¬<lb/>
genden Leiden, &#x017F;o im Werther, Clavigo, Ta&#x017F;&#x017F;o, der<lb/>
natu&#x0364;rlichen Tochter, den Wahlverwandt&#x017F;chaften &#xA75B;c.<lb/>
Die grau&#x017F;ame Wollu&#x017F;t liegt darin, daß der Dichter<lb/>
&#x017F;ich an den Ver&#x017F;chuldungen und Leiden ergo&#x0364;tzt, ohne<lb/>
&#x017F;ie durch irgend etwas zu ver&#x017F;o&#x0364;hnen. Oft er&#x017F;cheint<lb/>
die&#x017F;e Grau&#x017F;amkeit ab&#x017F;ichtlich, oft nur unwillku&#x0364;rlich<lb/>
als Folge der Gleichgu&#x0364;ltigkeit, mit welcher der Dich¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0234] muͤßten dieſe Dinge nicht anders, denn als Myſterien gehoͤrt werden, von ſo wenigen als moͤglich, welche dazu vorher nicht ein ſchlechtes Schweinferkel, ſon¬ dern ein gewiſſes großes und koſtbares Opfer ge¬ bracht haben muͤßten, damit ſo wenige als moͤglich von ſolchen Sachen zu hoͤren Gelegenheit haͤtten.“ Es iſt wahr, daß ſich jene geheimnißvolle Wahlver¬ wandtſchaft, das Princip des Ehebruchs, es iſt wahr, daß ſich Geluͤſte, dergleichen in der Stella geſchildert ſind, wirklich in der Natur vorfinden, aber als Aus¬ wuͤchſe, und wir ſollen uns uͤber die Natur, oder vielmehr uͤber die Unnatur dieſer Dinge nicht durch eine einnehmende poetiſche Beſchoͤnigung, durch eine Verwechslung derſelben mit den heiligſten Gefuͤhlen reiner Liebe taͤuſchen laſſen, denn, wie Plato weiter fortfaͤhrt: »Niemand will in ſeinem herrlichſten Theile und uͤber die hoͤchſten Dinge gern einer Luͤge Raum geben.« Noch muͤſſen wir jener Grauſamkeit gedenken, welche mit zum feinen Genuß gehoͤrt. Goͤthe ſchil¬ dert mit Vorliebe die menſchlichen Schwaͤchen und Vorurtheile, und weidet ſich an den daraus entſprin¬ genden Leiden, ſo im Werther, Clavigo, Taſſo, der natuͤrlichen Tochter, den Wahlverwandtſchaften ꝛc. Die grauſame Wolluſt liegt darin, daß der Dichter ſich an den Verſchuldungen und Leiden ergoͤtzt, ohne ſie durch irgend etwas zu verſoͤhnen. Oft erſcheint dieſe Grauſamkeit abſichtlich, oft nur unwillkuͤrlich als Folge der Gleichguͤltigkeit, mit welcher der Dich¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/234
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/234>, abgerufen am 28.04.2024.