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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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ter die Welt übersah. Die Ruhe und Klarheit, mit
welcher Göthe seine Schilderungen entwirft, erscheint
oft als völlige Indifferenz, nicht als die göttliche
Ruhe, die aus der Fülle der Idee entspringt. Sie
wirkt also auch nur wie das todte Naturgesetz, nicht
wie die innere Befriedigung der Seele. Daher bei
Göthe so viel Mißtöne, die nicht aufgelöst sind.

Wir maßen uns indessen nicht an, von Göthe
zu verlangen, daß er hätte anders seyn sollen, als
ihn die Natur hat werden lassen. Göthe konnte seine
Natur nicht ändern, nur ausbilden, und er hat mit
dem ihm verliehenen Talent in der That bewunderns¬
würdig gewuchert. Kraft seines Talentes steht Gö¬
the ohne Frage über allen andern deutschen Dichtern,
und seine Gewalt über die beweglichen Gemüther
war in dem Maaß nachdrücklicher, als das Talent
überhaupt die ausübende Macht in der Poesie be¬
zeichnet. Schiller, Klopstock, Herder, Novalis und
manche andere gelten nur als wohlwollende Könige,
denen es an Macht gebricht, der Welt so viel Se¬
gen zu gewähren, als sie gern möchten, weil die
Herrschaft ihrer Ideen sich nur über eine verhältni߬
mäßig geringe Anzahl Menschen erstreckt, die dafür
empfänglich sind. Göthe dagegen stellt sich als ein
alles bezwingender Usurpator dar, der mit seinem
Talent die Gemüther eben so beherrscht hat, wie Na¬
poleon die Körper. Der beste Wille bezaubert we¬
niger als eine That, wenn sie auch eine schlechte wäre.
Zumal in unserer Zeit gilt der Augenblick und wer

ter die Welt uͤberſah. Die Ruhe und Klarheit, mit
welcher Goͤthe ſeine Schilderungen entwirft, erſcheint
oft als voͤllige Indifferenz, nicht als die goͤttliche
Ruhe, die aus der Fuͤlle der Idee entſpringt. Sie
wirkt alſo auch nur wie das todte Naturgeſetz, nicht
wie die innere Befriedigung der Seele. Daher bei
Goͤthe ſo viel Mißtoͤne, die nicht aufgeloͤſt ſind.

Wir maßen uns indeſſen nicht an, von Goͤthe
zu verlangen, daß er haͤtte anders ſeyn ſollen, als
ihn die Natur hat werden laſſen. Goͤthe konnte ſeine
Natur nicht aͤndern, nur ausbilden, und er hat mit
dem ihm verliehenen Talent in der That bewunderns¬
wuͤrdig gewuchert. Kraft ſeines Talentes ſteht Goͤ¬
the ohne Frage uͤber allen andern deutſchen Dichtern,
und ſeine Gewalt uͤber die beweglichen Gemuͤther
war in dem Maaß nachdruͤcklicher, als das Talent
uͤberhaupt die ausuͤbende Macht in der Poeſie be¬
zeichnet. Schiller, Klopſtock, Herder, Novalis und
manche andere gelten nur als wohlwollende Koͤnige,
denen es an Macht gebricht, der Welt ſo viel Se¬
gen zu gewaͤhren, als ſie gern moͤchten, weil die
Herrſchaft ihrer Ideen ſich nur uͤber eine verhaͤltni߬
maͤßig geringe Anzahl Menſchen erſtreckt, die dafuͤr
empfaͤnglich ſind. Goͤthe dagegen ſtellt ſich als ein
alles bezwingender Uſurpator dar, der mit ſeinem
Talent die Gemuͤther eben ſo beherrſcht hat, wie Na¬
poleon die Koͤrper. Der beſte Wille bezaubert we¬
niger als eine That, wenn ſie auch eine ſchlechte waͤre.
Zumal in unſerer Zeit gilt der Augenblick und wer

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[225/0235] ter die Welt uͤberſah. Die Ruhe und Klarheit, mit welcher Goͤthe ſeine Schilderungen entwirft, erſcheint oft als voͤllige Indifferenz, nicht als die goͤttliche Ruhe, die aus der Fuͤlle der Idee entſpringt. Sie wirkt alſo auch nur wie das todte Naturgeſetz, nicht wie die innere Befriedigung der Seele. Daher bei Goͤthe ſo viel Mißtoͤne, die nicht aufgeloͤſt ſind. Wir maßen uns indeſſen nicht an, von Goͤthe zu verlangen, daß er haͤtte anders ſeyn ſollen, als ihn die Natur hat werden laſſen. Goͤthe konnte ſeine Natur nicht aͤndern, nur ausbilden, und er hat mit dem ihm verliehenen Talent in der That bewunderns¬ wuͤrdig gewuchert. Kraft ſeines Talentes ſteht Goͤ¬ the ohne Frage uͤber allen andern deutſchen Dichtern, und ſeine Gewalt uͤber die beweglichen Gemuͤther war in dem Maaß nachdruͤcklicher, als das Talent uͤberhaupt die ausuͤbende Macht in der Poeſie be¬ zeichnet. Schiller, Klopſtock, Herder, Novalis und manche andere gelten nur als wohlwollende Koͤnige, denen es an Macht gebricht, der Welt ſo viel Se¬ gen zu gewaͤhren, als ſie gern moͤchten, weil die Herrſchaft ihrer Ideen ſich nur uͤber eine verhaͤltni߬ maͤßig geringe Anzahl Menſchen erſtreckt, die dafuͤr empfaͤnglich ſind. Goͤthe dagegen ſtellt ſich als ein alles bezwingender Uſurpator dar, der mit ſeinem Talent die Gemuͤther eben ſo beherrſcht hat, wie Na¬ poleon die Koͤrper. Der beſte Wille bezaubert we¬ niger als eine That, wenn ſie auch eine ſchlechte waͤre. Zumal in unſerer Zeit gilt der Augenblick und wer

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/235>, abgerufen am 28.04.2024.