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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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ken stehn. Beide Gefühle wechseln oder durchdringen
sich beständig und sind unzertrennlich von einander.
Wir beklagen und verspotten uns zugleich, unsre Lust
ist unser Schmerz.

Ist der Mensch auf der höchsten Stufe der ihm
möglichen Vollkommenheit, oder ist er nur so glück¬
lich befangen, daß er mit seinem, wenn auch be¬
schränkten, Zustande doch vollkommen zufrieden ist,
so kommt dieser Humor gar nicht zum Vorschein.
Sobald aber ein Mißverhältniß zwischen des Men¬
schen Wunsch oder Ideal und seinem wirklichen Zu¬
stand eintritt, sobald er etwas Höheres erkennt, das
seine Kräfte nicht erreichen können, und sobald er
eben darum das Unvollkommene seines Zustandes und
seines Vermögens einsieht, so äußert sich diese Er¬
kenntniß auch bald in der humoristischen Weise. Im
Alterthum und im Mittelalter gab es in diesem Sinn
noch keinen Humor, weil damals die Völker in ihrer
Beschränkung zufrieden waren und über die Schran¬
ken nicht hinausblickten, weil sie ganz in der Gegen¬
wart, nicht wie wir auch im Sehnen nach der Zu¬
kunft lebten. Man verspottete damals nur einzelne
Mängel oder Laster, nie das ganze Zeitalter. Man
kannte daher auch nur das Komische, nicht das Tragi¬
komische. Je schlechter die Zeiten wurden, desto mehr
regte sich der Spott, so namentlich vor und während
der Reformation, aber erst in der neuen Zeit erhob
sich der Humor zur tragikomischen Selbständigkeit.
In dieser Art ist er unsrer Zeit ausschließlich eigen.

ken ſtehn. Beide Gefuͤhle wechſeln oder durchdringen
ſich beſtaͤndig und ſind unzertrennlich von einander.
Wir beklagen und verſpotten uns zugleich, unſre Luſt
iſt unſer Schmerz.

Iſt der Menſch auf der hoͤchſten Stufe der ihm
moͤglichen Vollkommenheit, oder iſt er nur ſo gluͤck¬
lich befangen, daß er mit ſeinem, wenn auch be¬
ſchraͤnkten, Zuſtande doch vollkommen zufrieden iſt,
ſo kommt dieſer Humor gar nicht zum Vorſchein.
Sobald aber ein Mißverhaͤltniß zwiſchen des Men¬
ſchen Wunſch oder Ideal und ſeinem wirklichen Zu¬
ſtand eintritt, ſobald er etwas Hoͤheres erkennt, das
ſeine Kraͤfte nicht erreichen koͤnnen, und ſobald er
eben darum das Unvollkommene ſeines Zuſtandes und
ſeines Vermoͤgens einſieht, ſo aͤußert ſich dieſe Er¬
kenntniß auch bald in der humoriſtiſchen Weiſe. Im
Alterthum und im Mittelalter gab es in dieſem Sinn
noch keinen Humor, weil damals die Voͤlker in ihrer
Beſchraͤnkung zufrieden waren und uͤber die Schran¬
ken nicht hinausblickten, weil ſie ganz in der Gegen¬
wart, nicht wie wir auch im Sehnen nach der Zu¬
kunft lebten. Man verſpottete damals nur einzelne
Maͤngel oder Laſter, nie das ganze Zeitalter. Man
kannte daher auch nur das Komiſche, nicht das Tragi¬
komiſche. Je ſchlechter die Zeiten wurden, deſto mehr
regte ſich der Spott, ſo namentlich vor und waͤhrend
der Reformation, aber erſt in der neuen Zeit erhob
ſich der Humor zur tragikomiſchen Selbſtaͤndigkeit.
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[233/0243] ken ſtehn. Beide Gefuͤhle wechſeln oder durchdringen ſich beſtaͤndig und ſind unzertrennlich von einander. Wir beklagen und verſpotten uns zugleich, unſre Luſt iſt unſer Schmerz. Iſt der Menſch auf der hoͤchſten Stufe der ihm moͤglichen Vollkommenheit, oder iſt er nur ſo gluͤck¬ lich befangen, daß er mit ſeinem, wenn auch be¬ ſchraͤnkten, Zuſtande doch vollkommen zufrieden iſt, ſo kommt dieſer Humor gar nicht zum Vorſchein. Sobald aber ein Mißverhaͤltniß zwiſchen des Men¬ ſchen Wunſch oder Ideal und ſeinem wirklichen Zu¬ ſtand eintritt, ſobald er etwas Hoͤheres erkennt, das ſeine Kraͤfte nicht erreichen koͤnnen, und ſobald er eben darum das Unvollkommene ſeines Zuſtandes und ſeines Vermoͤgens einſieht, ſo aͤußert ſich dieſe Er¬ kenntniß auch bald in der humoriſtiſchen Weiſe. Im Alterthum und im Mittelalter gab es in dieſem Sinn noch keinen Humor, weil damals die Voͤlker in ihrer Beſchraͤnkung zufrieden waren und uͤber die Schran¬ ken nicht hinausblickten, weil ſie ganz in der Gegen¬ wart, nicht wie wir auch im Sehnen nach der Zu¬ kunft lebten. Man verſpottete damals nur einzelne Maͤngel oder Laſter, nie das ganze Zeitalter. Man kannte daher auch nur das Komiſche, nicht das Tragi¬ komiſche. Je ſchlechter die Zeiten wurden, deſto mehr regte ſich der Spott, ſo namentlich vor und waͤhrend der Reformation, aber erſt in der neuen Zeit erhob ſich der Humor zur tragikomiſchen Selbſtaͤndigkeit. In dieſer Art iſt er unſrer Zeit ausſchließlich eigen.

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/243>, abgerufen am 27.04.2024.