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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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den Ranken. Auf den Hügeln schimmerten prunkbeladene
Kirchen und der Weg wurde immer häufiger zur ge¬
pflasterten Dorfgasse. Endlich durchschritten sie die
letzte Schlucht und vor ihnen lag im goldenen Abend¬
dufte das breite üppige Veltlin mit seinen heißen Wein¬
bergen und sumpfigen Reisfeldern.

"Dort ist Sondrio," sagte Agostino zu dem jetzt
wieder an seiner Seite schreitenden Waser und wies
auf eine italiänische Stadt mit schimmernden Palästen
und Thürmen, die dem aus der Einöde Kommenden
wie ein Feenzauber durch den dunkeln Rahmen des
Felsthors entgegenlachte.

"Ein lustiges Land, Dein Veltlin, Agostino," rief
der Zürcher, "und dort am Felsen wächst ja, irr' ich
nicht, der löbliche Sasseller, die Perle der Weine!"

"Er ist im April erfroren," versetzte Agostino in
schwermüthiger Stimmung, "zur Strafe unsrer Sünden."

"Das ist Schade," versetzte Jener, "was habt Ihr
denn eigentlich verbrochen?"

"Wir dulden unter uns den giftigen Aussatz der
Ketzerei, aber wir werden in Kürze gereinigt und das
faule Fleisch wird ausgeschnitten werden. Die Todten
und die Heiligen haben in feierlicher Versammlung das
Für und Wider erwogen am achten Mai um Mitter¬
nacht dort zu San Gervasio und Protasio," er wies

den Ranken. Auf den Hügeln ſchimmerten prunkbeladene
Kirchen und der Weg wurde immer häufiger zur ge¬
pflaſterten Dorfgaſſe. Endlich durchſchritten ſie die
letzte Schlucht und vor ihnen lag im goldenen Abend¬
dufte das breite üppige Veltlin mit ſeinen heißen Wein¬
bergen und ſumpfigen Reisfeldern.

„Dort iſt Sondrio,“ ſagte Agoſtino zu dem jetzt
wieder an ſeiner Seite ſchreitenden Waſer und wies
auf eine italiäniſche Stadt mit ſchimmernden Paläſten
und Thürmen, die dem aus der Einöde Kommenden
wie ein Feenzauber durch den dunkeln Rahmen des
Felsthors entgegenlachte.

„Ein luſtiges Land, Dein Veltlin, Agoſtino,“ rief
der Zürcher, „und dort am Felſen wächſt ja, irr' ich
nicht, der löbliche Saſſeller, die Perle der Weine!“

„Er iſt im April erfroren,“ verſetzte Agoſtino in
ſchwermüthiger Stimmung, „zur Strafe unſrer Sünden.“

„Das iſt Schade,“ verſetzte Jener, „was habt Ihr
denn eigentlich verbrochen?“

„Wir dulden unter uns den giftigen Ausſatz der
Ketzerei, aber wir werden in Kürze gereinigt und das
faule Fleiſch wird ausgeſchnitten werden. Die Todten
und die Heiligen haben in feierlicher Verſammlung das
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[44/0054] den Ranken. Auf den Hügeln ſchimmerten prunkbeladene Kirchen und der Weg wurde immer häufiger zur ge¬ pflaſterten Dorfgaſſe. Endlich durchſchritten ſie die letzte Schlucht und vor ihnen lag im goldenen Abend¬ dufte das breite üppige Veltlin mit ſeinen heißen Wein¬ bergen und ſumpfigen Reisfeldern. „Dort iſt Sondrio,“ ſagte Agoſtino zu dem jetzt wieder an ſeiner Seite ſchreitenden Waſer und wies auf eine italiäniſche Stadt mit ſchimmernden Paläſten und Thürmen, die dem aus der Einöde Kommenden wie ein Feenzauber durch den dunkeln Rahmen des Felsthors entgegenlachte. „Ein luſtiges Land, Dein Veltlin, Agoſtino,“ rief der Zürcher, „und dort am Felſen wächſt ja, irr' ich nicht, der löbliche Saſſeller, die Perle der Weine!“ „Er iſt im April erfroren,“ verſetzte Agoſtino in ſchwermüthiger Stimmung, „zur Strafe unſrer Sünden.“ „Das iſt Schade,“ verſetzte Jener, „was habt Ihr denn eigentlich verbrochen?“ „Wir dulden unter uns den giftigen Ausſatz der Ketzerei, aber wir werden in Kürze gereinigt und das faule Fleiſch wird ausgeſchnitten werden. Die Todten und die Heiligen haben in feierlicher Verſammlung das Für und Wider erwogen am achten Mai um Mitter¬ nacht dort zu San Gervaſio und Protaſio,“ er wies

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/54>, abgerufen am 29.04.2024.