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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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gleichgültig kaum ansah und sich seine Gesellschaft ohne
Verwunderung und ohne Neugier gefallen ließ. Er
konnte ihm nur wenige Worte abnöthigen und da der
Pfad ohnedies immer rauher und bald auf dem Schnee
schlüpfrig wurde, gab er seine Bemühungen auf.

Schneller, als Waser erwartet hatte, erreichten sie
die Paßhöhe. Hier beherrschte den Ausblick nach Süden
eine hochgethürmte, düstere Gebirgsmasse. Waser er¬
kundigte sich nach dem Namen dieses drohenden Riesen.
"Er hat deren verschiedene," antwortete Agostino, "hier
oben in Bünden nennen sie ihn anders, als wir unten
in Sondrio. Hier heißt er der Berg des Unglücks
und bei uns der Berg des Wehs." Von diesen schwer¬
müthigen Namen unangenehm berührt, ließ Waser seinen
wortkargen Begleiter voranschreiten, hielt eine kurze
Rast und blieb dann, ohne ihn aus den Augen zu
lassen, eine Strecke hinter ihm, um sich in der kräfti¬
gen Bergluft allein der freien Lust des Wanderns zu
ergeben.

So ging es stundenlang abwärts längs des schäu¬
menden, über Felsblöcke tobenden Malero, während die
Sonne immer glühender in die Thalenge hinunter¬
brannte. Jetzt begannen kräftig aus dem Wiesengrunde
emporgewundene Kastanienbäume den Pfad zu beschatten
und die ersten Weinlauben grüßten mit ihren schweben¬

gleichgültig kaum anſah und ſich ſeine Geſellſchaft ohne
Verwunderung und ohne Neugier gefallen ließ. Er
konnte ihm nur wenige Worte abnöthigen und da der
Pfad ohnedies immer rauher und bald auf dem Schnee
ſchlüpfrig wurde, gab er ſeine Bemühungen auf.

Schneller, als Waſer erwartet hatte, erreichten ſie
die Paßhöhe. Hier beherrſchte den Ausblick nach Süden
eine hochgethürmte, düſtere Gebirgsmaſſe. Waſer er¬
kundigte ſich nach dem Namen dieſes drohenden Rieſen.
„Er hat deren verſchiedene,“ antwortete Agoſtino, „hier
oben in Bünden nennen ſie ihn anders, als wir unten
in Sondrio. Hier heißt er der Berg des Unglücks
und bei uns der Berg des Wehs.“ Von dieſen ſchwer¬
müthigen Namen unangenehm berührt, ließ Waſer ſeinen
wortkargen Begleiter voranſchreiten, hielt eine kurze
Raſt und blieb dann, ohne ihn aus den Augen zu
laſſen, eine Strecke hinter ihm, um ſich in der kräfti¬
gen Bergluft allein der freien Luſt des Wanderns zu
ergeben.

So ging es ſtundenlang abwärts längs des ſchäu¬
menden, über Felsblöcke tobenden Malero, während die
Sonne immer glühender in die Thalenge hinunter¬
brannte. Jetzt begannen kräftig aus dem Wieſengrunde
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[43/0053] gleichgültig kaum anſah und ſich ſeine Geſellſchaft ohne Verwunderung und ohne Neugier gefallen ließ. Er konnte ihm nur wenige Worte abnöthigen und da der Pfad ohnedies immer rauher und bald auf dem Schnee ſchlüpfrig wurde, gab er ſeine Bemühungen auf. Schneller, als Waſer erwartet hatte, erreichten ſie die Paßhöhe. Hier beherrſchte den Ausblick nach Süden eine hochgethürmte, düſtere Gebirgsmaſſe. Waſer er¬ kundigte ſich nach dem Namen dieſes drohenden Rieſen. „Er hat deren verſchiedene,“ antwortete Agoſtino, „hier oben in Bünden nennen ſie ihn anders, als wir unten in Sondrio. Hier heißt er der Berg des Unglücks und bei uns der Berg des Wehs.“ Von dieſen ſchwer¬ müthigen Namen unangenehm berührt, ließ Waſer ſeinen wortkargen Begleiter voranſchreiten, hielt eine kurze Raſt und blieb dann, ohne ihn aus den Augen zu laſſen, eine Strecke hinter ihm, um ſich in der kräfti¬ gen Bergluft allein der freien Luſt des Wanderns zu ergeben. So ging es ſtundenlang abwärts längs des ſchäu¬ menden, über Felsblöcke tobenden Malero, während die Sonne immer glühender in die Thalenge hinunter¬ brannte. Jetzt begannen kräftig aus dem Wieſengrunde emporgewundene Kaſtanienbäume den Pfad zu beſchatten und die erſten Weinlauben grüßten mit ihren ſchweben¬

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/53>, abgerufen am 29.04.2024.