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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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berge rechts um den Fuß des Gebirges und erblickte
nach kurzer Wanderung das unter dem schattenden Grün
der Kastanien fast verborgene Dorf Berbenn, sein Reise¬
ziel. Ein halbnackter Bube wies ihm die Pfarre. Ein
ärmliches Haus -- aber an seiner Vorderseite umhangen
und beladen mit einem so reichen Prunke von Blättern
und Trauben, mit so üppigen Kränzen von übermüthi¬
gem Weinlaube, daß sein dürftiger Bau darunter ver¬
schwand. Ein breites Gitterdach auf morschen Holzsäulen
bildete die schwache Stütze dieses lastenden Reichthums
und die Vorhalle des Häuschens. Oben spielten die
letzten Strahlen der Abendsonne auf den warmen gold¬
grünen Blättern, darunter lag Alles im tiefsten Schatten.

Während Waser diese noch nie geschaute freie Fülle
bestaunte, erschien eine leichte Gestalt in der Thüre,
und als sie aus dem grünen Schatten trat, war es ein
schönes noch mädchenhaftes Weib, das einen Krug zum
Wasserholen auf dem Kopfe trug. Der nackte Arm
stützte leicht das auf den dicken braunen Flechten ruhende
Gefäß, sie bewegte sich in schwebender Anmuth mit ge¬
senkten Wimpern heran und als nun Waser in achtungs¬
voller Haltung höflich grüßend vor ihr stand und sie
die sanften leuchtenden Augen auf ihn richtete, war
ihm, er habe noch nie im Leben einen solchen Triumph
der Schönheit gesehen.

berge rechts um den Fuß des Gebirges und erblickte
nach kurzer Wanderung das unter dem ſchattenden Grün
der Kaſtanien faſt verborgene Dorf Berbenn, ſein Reiſe¬
ziel. Ein halbnackter Bube wies ihm die Pfarre. Ein
ärmliches Haus — aber an ſeiner Vorderſeite umhangen
und beladen mit einem ſo reichen Prunke von Blättern
und Trauben, mit ſo üppigen Kränzen von übermüthi¬
gem Weinlaube, daß ſein dürftiger Bau darunter ver¬
ſchwand. Ein breites Gitterdach auf morſchen Holzſäulen
bildete die ſchwache Stütze dieſes laſtenden Reichthums
und die Vorhalle des Häuschens. Oben ſpielten die
letzten Strahlen der Abendſonne auf den warmen gold¬
grünen Blättern, darunter lag Alles im tiefſten Schatten.

Während Waſer dieſe noch nie geſchaute freie Fülle
beſtaunte, erſchien eine leichte Geſtalt in der Thüre,
und als ſie aus dem grünen Schatten trat, war es ein
ſchönes noch mädchenhaftes Weib, das einen Krug zum
Waſſerholen auf dem Kopfe trug. Der nackte Arm
ſtützte leicht das auf den dicken braunen Flechten ruhende
Gefäß, ſie bewegte ſich in ſchwebender Anmuth mit ge¬
ſenkten Wimpern heran und als nun Waſer in achtungs¬
voller Haltung höflich grüßend vor ihr ſtand und ſie
die ſanften leuchtenden Augen auf ihn richtete, war
ihm, er habe noch nie im Leben einen ſolchen Triumph
der Schönheit geſehen.

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[46/0056] berge rechts um den Fuß des Gebirges und erblickte nach kurzer Wanderung das unter dem ſchattenden Grün der Kaſtanien faſt verborgene Dorf Berbenn, ſein Reiſe¬ ziel. Ein halbnackter Bube wies ihm die Pfarre. Ein ärmliches Haus — aber an ſeiner Vorderſeite umhangen und beladen mit einem ſo reichen Prunke von Blättern und Trauben, mit ſo üppigen Kränzen von übermüthi¬ gem Weinlaube, daß ſein dürftiger Bau darunter ver¬ ſchwand. Ein breites Gitterdach auf morſchen Holzſäulen bildete die ſchwache Stütze dieſes laſtenden Reichthums und die Vorhalle des Häuschens. Oben ſpielten die letzten Strahlen der Abendſonne auf den warmen gold¬ grünen Blättern, darunter lag Alles im tiefſten Schatten. Während Waſer dieſe noch nie geſchaute freie Fülle beſtaunte, erſchien eine leichte Geſtalt in der Thüre, und als ſie aus dem grünen Schatten trat, war es ein ſchönes noch mädchenhaftes Weib, das einen Krug zum Waſſerholen auf dem Kopfe trug. Der nackte Arm ſtützte leicht das auf den dicken braunen Flechten ruhende Gefäß, ſie bewegte ſich in ſchwebender Anmuth mit ge¬ ſenkten Wimpern heran und als nun Waſer in achtungs¬ voller Haltung höflich grüßend vor ihr ſtand und ſie die ſanften leuchtenden Augen auf ihn richtete, war ihm, er habe noch nie im Leben einen ſolchen Triumph der Schönheit geſehen.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/56>, abgerufen am 27.04.2024.