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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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der Andere eine Weile. "Er ist auf der Folter mit
durchgebissener Zunge gestorben . . ." sagte er endlich
vorwurfsvoll.

Jenatsch antwortete in kurzen abgerissenen Sätzen:
"Ich wollte ihn retten . . . Wie konnt' ich wissen, daß
der Schwächling die ersten Foltergrade nicht überstehen
würde . . . Er hatte persönliche Feinde. Die Aufregung
gegen die römischen Pfaffen wollte ihr Opfer haben.
Unsere katholischen Unterthanen hier im Veltlin mußten
eingeschüchtert werden. Es kam, wie geschrieben steht:
Besser ist's, daß Einer umkomme, als daß das ganze
Volk verderbe." --

Wie um die trübe Stimmung abzuschütteln, erhob
sich nun Jenatsch, den Freund aus dem dunkelnden
Gartenraume ins Haus zu führen. Ueber der Mauer
sah man den schlanken Kirchthurm vom letzten Abend¬
gold sich abheben.

"Der Unglückliche hat übrigens hier noch zahl¬
reiche Anhänger," sagte er, und dann auf die Kirche
weisend: "dort las er seine erste Messe vor dreißig
Jahren." --

Im Hauptgemach, das nach dem Flur offen stand,
brannte eine Lampe. Als die Beiden das Haus be¬
traten, sahen sie die junge Frau an der Vorderthür
bei einer Freundin stehen, die sie herausgerufen zu

der Andere eine Weile. „Er iſt auf der Folter mit
durchgebiſſener Zunge geſtorben . . .“ ſagte er endlich
vorwurfsvoll.

Jenatſch antwortete in kurzen abgeriſſenen Sätzen:
„Ich wollte ihn retten . . . Wie konnt' ich wiſſen, daß
der Schwächling die erſten Foltergrade nicht überſtehen
würde . . . Er hatte perſönliche Feinde. Die Aufregung
gegen die römiſchen Pfaffen wollte ihr Opfer haben.
Unſere katholiſchen Unterthanen hier im Veltlin mußten
eingeſchüchtert werden. Es kam, wie geſchrieben ſteht:
Beſſer iſt's, daß Einer umkomme, als daß das ganze
Volk verderbe.“ —

Wie um die trübe Stimmung abzuſchütteln, erhob
ſich nun Jenatſch, den Freund aus dem dunkelnden
Gartenraume ins Haus zu führen. Ueber der Mauer
ſah man den ſchlanken Kirchthurm vom letzten Abend¬
gold ſich abheben.

„Der Unglückliche hat übrigens hier noch zahl¬
reiche Anhänger,“ ſagte er, und dann auf die Kirche
weiſend: „dort las er ſeine erſte Meſſe vor dreißig
Jahren.“ —

Im Hauptgemach, das nach dem Flur offen ſtand,
brannte eine Lampe. Als die Beiden das Haus be¬
traten, ſahen ſie die junge Frau an der Vorderthür
bei einer Freundin ſtehen, die ſie herausgerufen zu

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[54/0064] der Andere eine Weile. „Er iſt auf der Folter mit durchgebiſſener Zunge geſtorben . . .“ ſagte er endlich vorwurfsvoll. Jenatſch antwortete in kurzen abgeriſſenen Sätzen: „Ich wollte ihn retten . . . Wie konnt' ich wiſſen, daß der Schwächling die erſten Foltergrade nicht überſtehen würde . . . Er hatte perſönliche Feinde. Die Aufregung gegen die römiſchen Pfaffen wollte ihr Opfer haben. Unſere katholiſchen Unterthanen hier im Veltlin mußten eingeſchüchtert werden. Es kam, wie geſchrieben ſteht: Beſſer iſt's, daß Einer umkomme, als daß das ganze Volk verderbe.“ — Wie um die trübe Stimmung abzuſchütteln, erhob ſich nun Jenatſch, den Freund aus dem dunkelnden Gartenraume ins Haus zu führen. Ueber der Mauer ſah man den ſchlanken Kirchthurm vom letzten Abend¬ gold ſich abheben. „Der Unglückliche hat übrigens hier noch zahl¬ reiche Anhänger,“ ſagte er, und dann auf die Kirche weiſend: „dort las er ſeine erſte Meſſe vor dreißig Jahren.“ — Im Hauptgemach, das nach dem Flur offen ſtand, brannte eine Lampe. Als die Beiden das Haus be¬ traten, ſahen ſie die junge Frau an der Vorderthür bei einer Freundin ſtehen, die ſie herausgerufen zu

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/64>, abgerufen am 29.04.2024.