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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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haben schien und ihr mit ängstlichen Geberden etwas
zuflüsterte. Hinter ihnen auf der Dorfgasse liefen in
der Dämmerung Leute vorüber und man vernahm ein
wirres Getön von Stimmen, aus dem jetzt deutlich der
Ruf eines alten Weibes hervorkreischte: "Lucia, Lucia!
Ein entsetzliches Wunder Gottes!"

Jenatsch, dem solche Scenen nicht neu sein moch¬
ten, wollte, seinem Gaste den Vortritt lassend, die Zimmer¬
schwelle überschreiten, als die junge Frau sich ihm
näherte und ihn angstvoll am Aermel faßte. Waser,
der sich umwendete, sah, wie sie todtenblaß die gefalte¬
ten Hände zu ihrem Manne erhob.

"Geh' an Deinen Herd, Kind, und besorge uns
ruhig das Abendessen," befahl er freundlich, "damit Du
mit Deiner Kunst bei unserm Gaste Ehre einlegest."
Dann wandte er sich unmuthig lachend zu Waser: "Die
verrückten welschen Hirngespinnste! Sie sagen, der todte
Erzpriester Rusca stehe drüben in der Kirche und lese
Messe! -- Ich will dem Wunder zu Leibe rücken.
Kommst Du mit, Waser?"

Diesem lief es kalt über den Rücken, aber die
Neugierde überwog und: "Warum nicht!" sagte er mit
muthiger Stimme; dann, als sie der vorwärts treiben¬
den Menge verstörter Leute durch die Dorfgasse nach

haben ſchien und ihr mit ängſtlichen Geberden etwas
zuflüſterte. Hinter ihnen auf der Dorfgaſſe liefen in
der Dämmerung Leute vorüber und man vernahm ein
wirres Getön von Stimmen, aus dem jetzt deutlich der
Ruf eines alten Weibes hervorkreiſchte: „Lucia, Lucia!
Ein entſetzliches Wunder Gottes!“

Jenatſch, dem ſolche Scenen nicht neu ſein moch¬
ten, wollte, ſeinem Gaſte den Vortritt laſſend, die Zimmer¬
ſchwelle überſchreiten, als die junge Frau ſich ihm
näherte und ihn angſtvoll am Aermel faßte. Waſer,
der ſich umwendete, ſah, wie ſie todtenblaß die gefalte¬
ten Hände zu ihrem Manne erhob.

„Geh' an Deinen Herd, Kind, und beſorge uns
ruhig das Abendeſſen,“ befahl er freundlich, „damit Du
mit Deiner Kunſt bei unſerm Gaſte Ehre einlegeſt.“
Dann wandte er ſich unmuthig lachend zu Waſer: „Die
verrückten welſchen Hirngeſpinnſte! Sie ſagen, der todte
Erzprieſter Rusca ſtehe drüben in der Kirche und leſe
Meſſe! — Ich will dem Wunder zu Leibe rücken.
Kommſt Du mit, Waſer?“

Dieſem lief es kalt über den Rücken, aber die
Neugierde überwog und: „Warum nicht!“ ſagte er mit
muthiger Stimme; dann, als ſie der vorwärts treiben¬
den Menge verſtörter Leute durch die Dorfgaſſe nach

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[55/0065] haben ſchien und ihr mit ängſtlichen Geberden etwas zuflüſterte. Hinter ihnen auf der Dorfgaſſe liefen in der Dämmerung Leute vorüber und man vernahm ein wirres Getön von Stimmen, aus dem jetzt deutlich der Ruf eines alten Weibes hervorkreiſchte: „Lucia, Lucia! Ein entſetzliches Wunder Gottes!“ Jenatſch, dem ſolche Scenen nicht neu ſein moch¬ ten, wollte, ſeinem Gaſte den Vortritt laſſend, die Zimmer¬ ſchwelle überſchreiten, als die junge Frau ſich ihm näherte und ihn angſtvoll am Aermel faßte. Waſer, der ſich umwendete, ſah, wie ſie todtenblaß die gefalte¬ ten Hände zu ihrem Manne erhob. „Geh' an Deinen Herd, Kind, und beſorge uns ruhig das Abendeſſen,“ befahl er freundlich, „damit Du mit Deiner Kunſt bei unſerm Gaſte Ehre einlegeſt.“ Dann wandte er ſich unmuthig lachend zu Waſer: „Die verrückten welſchen Hirngeſpinnſte! Sie ſagen, der todte Erzprieſter Rusca ſtehe drüben in der Kirche und leſe Meſſe! — Ich will dem Wunder zu Leibe rücken. Kommſt Du mit, Waſer?“ Dieſem lief es kalt über den Rücken, aber die Neugierde überwog und: „Warum nicht!“ ſagte er mit muthiger Stimme; dann, als ſie der vorwärts treiben¬ den Menge verſtörter Leute durch die Dorfgaſſe nach

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/65>, abgerufen am 29.04.2024.