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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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liedes, die ein italiänischer Junge in schüchterner Ent¬
fernung auf seiner Mandoline spielte.

Der Herzog selbst hatte sich an das stillere nörd¬
liche Ende des Gartens zurückgezogen, wo er allein auf
der niedrigen von der Flut bespülten Mauer saß, eine
Landkarte auf den Knieen, mit deren Linien er die
gewaltig vor ihm aufragenden Gebirgsmassen zweifelnd
verglich.

Waser hatte jetzt den Ruheplatz des Herzogs er¬
reicht und stellte sich und seinen Freund mit einer tiefen
Verbeugung vor. Rohans Auge blieb sofort an der in
ihrer wilden Kraft seltsam anziehenden Erscheinung des
Bündners haften.

"Euer Rock ließ mich auf den evangelischen Geist¬
lichen schließen," sagte er, sich mit Interesse ihm zu¬
wendend. "Ihr könnt also, obgleich wir uns auf diesem
Boden treffen und trotz Eurer dunkeln Augen kein
Italiäner sein. Da seid Ihr wohl ein Sohn der
nahen Rhätia, und so will ich Euch denn bitten, mir
von den Gebirgszügen, die ich gestern, den Splügen
überschreitend, durchschnitt und die ich zum Theil noch
vor mir sehe, einen klaren Begriff zu geben. Meine
Karte läßt mich im Stich. Setzt Euch neben mich."

Jenatsch betrachtete begierig die vorzügliche Etappen¬
karte und fand sich schnell zurecht. Er entwarf dem

liedes, die ein italiäniſcher Junge in ſchüchterner Ent¬
fernung auf ſeiner Mandoline ſpielte.

Der Herzog ſelbſt hatte ſich an das ſtillere nörd¬
liche Ende des Gartens zurückgezogen, wo er allein auf
der niedrigen von der Flut beſpülten Mauer ſaß, eine
Landkarte auf den Knieen, mit deren Linien er die
gewaltig vor ihm aufragenden Gebirgsmaſſen zweifelnd
verglich.

Waſer hatte jetzt den Ruheplatz des Herzogs er¬
reicht und ſtellte ſich und ſeinen Freund mit einer tiefen
Verbeugung vor. Rohans Auge blieb ſofort an der in
ihrer wilden Kraft ſeltſam anziehenden Erſcheinung des
Bündners haften.

„Euer Rock ließ mich auf den evangeliſchen Geiſt¬
lichen ſchließen,“ ſagte er, ſich mit Intereſſe ihm zu¬
wendend. „Ihr könnt alſo, obgleich wir uns auf dieſem
Boden treffen und trotz Eurer dunkeln Augen kein
Italiäner ſein. Da ſeid Ihr wohl ein Sohn der
nahen Rhätia, und ſo will ich Euch denn bitten, mir
von den Gebirgszügen, die ich geſtern, den Splügen
überſchreitend, durchſchnitt und die ich zum Theil noch
vor mir ſehe, einen klaren Begriff zu geben. Meine
Karte läßt mich im Stich. Setzt Euch neben mich.“

Jenatſch betrachtete begierig die vorzügliche Etappen¬
karte und fand ſich ſchnell zurecht. Er entwarf dem

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[75/0085] liedes, die ein italiäniſcher Junge in ſchüchterner Ent¬ fernung auf ſeiner Mandoline ſpielte. Der Herzog ſelbſt hatte ſich an das ſtillere nörd¬ liche Ende des Gartens zurückgezogen, wo er allein auf der niedrigen von der Flut beſpülten Mauer ſaß, eine Landkarte auf den Knieen, mit deren Linien er die gewaltig vor ihm aufragenden Gebirgsmaſſen zweifelnd verglich. Waſer hatte jetzt den Ruheplatz des Herzogs er¬ reicht und ſtellte ſich und ſeinen Freund mit einer tiefen Verbeugung vor. Rohans Auge blieb ſofort an der in ihrer wilden Kraft ſeltſam anziehenden Erſcheinung des Bündners haften. „Euer Rock ließ mich auf den evangeliſchen Geiſt¬ lichen ſchließen,“ ſagte er, ſich mit Intereſſe ihm zu¬ wendend. „Ihr könnt alſo, obgleich wir uns auf dieſem Boden treffen und trotz Eurer dunkeln Augen kein Italiäner ſein. Da ſeid Ihr wohl ein Sohn der nahen Rhätia, und ſo will ich Euch denn bitten, mir von den Gebirgszügen, die ich geſtern, den Splügen überſchreitend, durchſchnitt und die ich zum Theil noch vor mir ſehe, einen klaren Begriff zu geben. Meine Karte läßt mich im Stich. Setzt Euch neben mich.“ Jenatſch betrachtete begierig die vorzügliche Etappen¬ karte und fand ſich ſchnell zurecht. Er entwarf dem

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/85>, abgerufen am 29.04.2024.