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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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deute er die Reisenden, ihre Maulthiere zu wenden.
Nun hatte er sie fast erreicht und rief ihnen zu:

"Zurück Jenatsch! Nicht hinein nach Morbegno!" --

"Was bedeutet das?" fragte dieser ruhig.

"Nichts Gutes!" versetzte Pancratius. "Wunder
und Zeichen geschehen im Veltlin, das Volk ist aufge¬
regt, die Einen liegen in den Kirchen auf den Knien,
die Andern laden ihre Büchsen und wetzen ihre Messer.
Zeige Dich nicht in Morbegno, kehre nicht auf Deine
Pfarre zurück, wende Dein Thier und flüchte nach
Chiavenna!"

"Was? Ich soll mein Weib im Stiche lassen?"
fuhr Jenatsch auf; "meine Freunde nicht warnen?
Den braven Alexander und den redlichen Fausch auf
seinem Bergdorfe Buglio? Nichts da! Ich reite zurück --
natürlich das Städtchen umgehend über die Adda. Mein
Kamerad hier, Herr Waser von Zürich, kennt keine
Furcht . . . und Du, Pancrazi, thust mir den Gefallen
und kommst mit. Du nächtigst bei mir. Meine Ber¬
benner sind nicht so gottverlassen, daß sie des heiligen
Franziskus Kutte nicht in Ehren hielten."

Nach kurzem Besinnen willigte der Kapuziner ein.
"Meinetwegen, am Ende!" sagte er. "Heute bin ich
Dein Schutzpatron, ein ander Mal bist Du der meinige."

So ritten sie, was ihre Thiere laufen konnten,

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deute er die Reiſenden, ihre Maulthiere zu wenden.
Nun hatte er ſie faſt erreicht und rief ihnen zu:

„Zurück Jenatſch! Nicht hinein nach Morbegno!“ —

„Was bedeutet das?“ fragte dieſer ruhig.

„Nichts Gutes!“ verſetzte Pancratius. „Wunder
und Zeichen geſchehen im Veltlin, das Volk iſt aufge¬
regt, die Einen liegen in den Kirchen auf den Knien,
die Andern laden ihre Büchſen und wetzen ihre Meſſer.
Zeige Dich nicht in Morbegno, kehre nicht auf Deine
Pfarre zurück, wende Dein Thier und flüchte nach
Chiavenna!“

„Was? Ich ſoll mein Weib im Stiche laſſen?“
fuhr Jenatſch auf; „meine Freunde nicht warnen?
Den braven Alexander und den redlichen Fauſch auf
ſeinem Bergdorfe Buglio? Nichts da! Ich reite zurück —
natürlich das Städtchen umgehend über die Adda. Mein
Kamerad hier, Herr Waſer von Zürich, kennt keine
Furcht . . . und Du, Pancrazi, thuſt mir den Gefallen
und kommſt mit. Du nächtigſt bei mir. Meine Ber¬
benner ſind nicht ſo gottverlaſſen, daß ſie des heiligen
Franziskus Kutte nicht in Ehren hielten.“

Nach kurzem Beſinnen willigte der Kapuziner ein.
„Meinetwegen, am Ende!“ ſagte er. „Heute bin ich
Dein Schutzpatron, ein ander Mal biſt Du der meinige.“

So ritten ſie, was ihre Thiere laufen konnten,

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[83/0093] deute er die Reiſenden, ihre Maulthiere zu wenden. Nun hatte er ſie faſt erreicht und rief ihnen zu: „Zurück Jenatſch! Nicht hinein nach Morbegno!“ — „Was bedeutet das?“ fragte dieſer ruhig. „Nichts Gutes!“ verſetzte Pancratius. „Wunder und Zeichen geſchehen im Veltlin, das Volk iſt aufge¬ regt, die Einen liegen in den Kirchen auf den Knien, die Andern laden ihre Büchſen und wetzen ihre Meſſer. Zeige Dich nicht in Morbegno, kehre nicht auf Deine Pfarre zurück, wende Dein Thier und flüchte nach Chiavenna!“ „Was? Ich ſoll mein Weib im Stiche laſſen?“ fuhr Jenatſch auf; „meine Freunde nicht warnen? Den braven Alexander und den redlichen Fauſch auf ſeinem Bergdorfe Buglio? Nichts da! Ich reite zurück — natürlich das Städtchen umgehend über die Adda. Mein Kamerad hier, Herr Waſer von Zürich, kennt keine Furcht . . . und Du, Pancrazi, thuſt mir den Gefallen und kommſt mit. Du nächtigſt bei mir. Meine Ber¬ benner ſind nicht ſo gottverlaſſen, daß ſie des heiligen Franziskus Kutte nicht in Ehren hielten.“ Nach kurzem Beſinnen willigte der Kapuziner ein. „Meinetwegen, am Ende!“ ſagte er. „Heute bin ich Dein Schutzpatron, ein ander Mal biſt Du der meinige.“ So ritten ſie, was ihre Thiere laufen konnten, 6*

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/93>, abgerufen am 29.04.2024.