Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite


Wer sie nicht kennt, kann sich, wenn der Feind
kommt, nicht vertheidigen. -- Mach dich bey Zeiten
mit deinem Feind bekannt, mit alle dem, was dich
umgibt, und dich am meisten zur Ausschweifung
hinrcißt damit du Waffen zu der Zeit des Friedens
anlegest! Sonst ist alle Gegenwehr zu spät. Jm
Tumult der Leidenschaften wirst du die Vertheidi-
gung vergessen. --
Wer sich selber kennt, der kennt auch andre
Menschen.
Die Grundtriebe der Seele sind sich,
ihrer Anlage nach, fast immer gleich. Du wirst
finden, daß Eigenliebe, die im Grunde gut, und
der, jedem lebenden Geschöpf vom Schöpfer einge-
pflanzte Trieb der Selbsterhaltung ist, stets die
Haupttriebfeder bleibt, die die Seele in Bewegung
bringt. Verschiedne Charaktere bilden sich nur durch
die Verschiedenheit der Aeusserungen dieses Grund-
triebs. So entstehen Geldgier, Ehrgeiz, Hang
zur Wollust, Edelmuth und Menschenliebe, je nach-
dem wir glauben, durch das eine mehr, als durch
das andre, unsre Eigenliebe zu befriedigen.
Kentnis deiner selbst und deines eignen Her-
zens wird dich in Beurtheilung andrer Men-
schen
billiger machen. Die besondre Lage, Verfas-
sung, und Verbindung eines Herzens, worinn es


Wer ſie nicht kennt, kann ſich, wenn der Feind
kommt, nicht vertheidigen. — Mach dich bey Zeiten
mit deinem Feind bekannt, mit alle dem, was dich
umgibt, und dich am meiſten zur Ausſchweifung
hinrcißt damit du Waffen zu der Zeit des Friedens
anlegeſt! Sonſt iſt alle Gegenwehr zu ſpaͤt. Jm
Tumult der Leidenſchaften wirſt du die Vertheidi-
gung vergeſſen. —
Wer ſich ſelber kennt, der kennt auch andre
Menſchen.
Die Grundtriebe der Seele ſind ſich,
ihrer Anlage nach, faſt immer gleich. Du wirſt
finden, daß Eigenliebe, die im Grunde gut, und
der, jedem lebenden Geſchoͤpf vom Schoͤpfer einge-
pflanzte Trieb der Selbſterhaltung iſt, ſtets die
Haupttriebfeder bleibt, die die Seele in Bewegung
bringt. Verſchiedne Charaktere bilden ſich nur durch
die Verſchiedenheit der Aeuſſerungen dieſes Grund-
triebs. So entſtehen Geldgier, Ehrgeiz, Hang
zur Wolluſt, Edelmuth und Menſchenliebe, je nach-
dem wir glauben, durch das eine mehr, als durch
das andre, unſre Eigenliebe zu befriedigen.
Kentnis deiner ſelbſt und deines eignen Her-
zens wird dich in Beurtheilung andrer Men-
ſchen
billiger machen. Die beſondre Lage, Verfaſ-
ſung, und Verbindung eines Herzens, worinn es
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <list>
          <item><pb facs="#f0106" n="102"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Wer &#x017F;ie nicht kennt, kann &#x017F;ich, wenn der Feind<lb/>
kommt, nicht vertheidigen. &#x2014; Mach dich bey Zeiten<lb/>
mit deinem Feind bekannt, mit alle dem, was dich<lb/>
umgibt, und dich am mei&#x017F;ten zur Aus&#x017F;chweifung<lb/>
hinrcißt damit du Waffen zu der Zeit des Friedens<lb/>
anlege&#x017F;t! Son&#x017F;t i&#x017F;t alle Gegenwehr zu &#x017F;pa&#x0364;t. Jm<lb/>
Tumult der Leiden&#x017F;chaften wir&#x017F;t du die Vertheidi-<lb/>
gung verge&#x017F;&#x017F;en. &#x2014;</item><lb/>
          <item>Wer <hi rendition="#fr">&#x017F;ich &#x017F;elber kennt,</hi> der <hi rendition="#fr">kennt</hi> auch <hi rendition="#fr">andre<lb/>
Men&#x017F;chen.</hi> Die Grundtriebe der Seele &#x017F;ind &#x017F;ich,<lb/>
ihrer Anlage nach, fa&#x017F;t immer gleich. Du wir&#x017F;t<lb/>
finden, daß <hi rendition="#fr">Eigenliebe,</hi> die im Grunde gut, und<lb/>
der, jedem lebenden Ge&#x017F;cho&#x0364;pf vom Scho&#x0364;pfer einge-<lb/>
pflanzte Trieb der <hi rendition="#fr">Selb&#x017F;terhaltung</hi> i&#x017F;t, &#x017F;tets die<lb/>
Haupttriebfeder bleibt, die die Seele in Bewegung<lb/>
bringt. Ver&#x017F;chiedne Charaktere bilden &#x017F;ich nur durch<lb/>
die Ver&#x017F;chiedenheit der Aeu&#x017F;&#x017F;erungen die&#x017F;es Grund-<lb/>
triebs. So ent&#x017F;tehen Geldgier, Ehrgeiz, Hang<lb/>
zur Wollu&#x017F;t, Edelmuth und Men&#x017F;chenliebe, je nach-<lb/>
dem wir glauben, durch das eine mehr, als durch<lb/>
das andre, un&#x017F;re Eigenliebe zu befriedigen.</item><lb/>
          <item>Kentnis deiner &#x017F;elb&#x017F;t und deines eignen Her-<lb/>
zens wird dich in <hi rendition="#fr">Beurtheilung andrer Men-<lb/>
&#x017F;chen</hi> billiger machen. Die be&#x017F;ondre Lage, Verfa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung, und Verbindung eines Herzens, worinn es<lb/></item>
        </list>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0106] Wer ſie nicht kennt, kann ſich, wenn der Feind kommt, nicht vertheidigen. — Mach dich bey Zeiten mit deinem Feind bekannt, mit alle dem, was dich umgibt, und dich am meiſten zur Ausſchweifung hinrcißt damit du Waffen zu der Zeit des Friedens anlegeſt! Sonſt iſt alle Gegenwehr zu ſpaͤt. Jm Tumult der Leidenſchaften wirſt du die Vertheidi- gung vergeſſen. — Wer ſich ſelber kennt, der kennt auch andre Menſchen. Die Grundtriebe der Seele ſind ſich, ihrer Anlage nach, faſt immer gleich. Du wirſt finden, daß Eigenliebe, die im Grunde gut, und der, jedem lebenden Geſchoͤpf vom Schoͤpfer einge- pflanzte Trieb der Selbſterhaltung iſt, ſtets die Haupttriebfeder bleibt, die die Seele in Bewegung bringt. Verſchiedne Charaktere bilden ſich nur durch die Verſchiedenheit der Aeuſſerungen dieſes Grund- triebs. So entſtehen Geldgier, Ehrgeiz, Hang zur Wolluſt, Edelmuth und Menſchenliebe, je nach- dem wir glauben, durch das eine mehr, als durch das andre, unſre Eigenliebe zu befriedigen. Kentnis deiner ſelbſt und deines eignen Her- zens wird dich in Beurtheilung andrer Men- ſchen billiger machen. Die beſondre Lage, Verfaſ- ſung, und Verbindung eines Herzens, worinn es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/106
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/106>, abgerufen am 01.05.2024.