Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.
andern Gegenstand geweiht sind. Der Mensch bleibt Mensch, in der Zelle, wie in der Welt! Da gibts innre Kämpfe! Die armen unschuldigen Opfer verdammen sich und ihr Gefühl, fasten und kasteyen sich, und ringen oft mit der Verzweiflung. Glaub! ich übertreibe nichts; blos Erfahrung hat mich das gelehrt. Eine junge Baronessinn, ohngefähr in meinen Jahren, oder höchstens zwey und zwanzig Jahr alt, hat mich zur Vertrauten ihres Jammers gemacht. Wenn ich an den Abend denke, wie sie mir im Mondschein ihre Geschichte erzählt hat, das Herz blutet mir. Ein Junker aus ihrer Nachbar- schaft liebte sie; sie ihn auch; Er versprach ihr die Heirath, und die Eltern von ihrer Seite warens ganz zufrieden. Weil er Officier bey den Baiern war, so mußt er mit seinem Regiment zu der Reichsarmee. Er nahm zärtlich von ihr Abschied, versprach, ihr zu schreiben, und schickte ihr |auch in den ersten zwey Monaten fünf Briefe. Auf ein- mal blieben sie aus. Sie wartete drey, vier Wo- chen; war in steter Angst, weil sie nicht wußte, ob er lebendig oder todt sey? fiel in eine Krankheit; phantasirte, nannte nichts als ihren Bräutigam, und lag so vierzehn Tage lang. Als sie wieder zu sich selber kam, war ihre erste Frage: ist ein Brief andern Gegenſtand geweiht ſind. Der Menſch bleibt Menſch, in der Zelle, wie in der Welt! Da gibts innre Kaͤmpfe! Die armen unſchuldigen Opfer verdammen ſich und ihr Gefuͤhl, faſten und kaſteyen ſich, und ringen oft mit der Verzweiflung. Glaub! ich uͤbertreibe nichts; blos Erfahrung hat mich das gelehrt. Eine junge Baroneſſinn, ohngefaͤhr in meinen Jahren, oder hoͤchſtens zwey und zwanzig Jahr alt, hat mich zur Vertrauten ihres Jammers gemacht. Wenn ich an den Abend denke, wie ſie mir im Mondſchein ihre Geſchichte erzaͤhlt hat, das Herz blutet mir. Ein Junker aus ihrer Nachbar- ſchaft liebte ſie; ſie ihn auch; Er verſprach ihr die Heirath, und die Eltern von ihrer Seite warens ganz zufrieden. Weil er Officier bey den Baiern war, ſo mußt er mit ſeinem Regiment zu der Reichsarmee. Er nahm zaͤrtlich von ihr Abſchied, verſprach, ihr zu ſchreiben, und ſchickte ihr |auch in den erſten zwey Monaten fuͤnf Briefe. Auf ein- mal blieben ſie aus. Sie wartete drey, vier Wo- chen; war in ſteter Angſt, weil ſie nicht wußte, ob er lebendig oder todt ſey? fiel in eine Krankheit; phantaſirte, nannte nichts als ihren Braͤutigam, und lag ſo vierzehn Tage lang. Als ſie wieder zu ſich ſelber kam, war ihre erſte Frage: iſt ein Brief <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0136" n="132"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> andern Gegenſtand geweiht ſind. Der Menſch<lb/> bleibt Menſch, in der Zelle, wie in der Welt! Da<lb/> gibts innre Kaͤmpfe! Die armen unſchuldigen Opfer<lb/> verdammen ſich und ihr Gefuͤhl, faſten und kaſteyen<lb/> ſich, und ringen oft mit der Verzweiflung. Glaub!<lb/> ich uͤbertreibe nichts; blos Erfahrung hat mich das<lb/> gelehrt. Eine junge Baroneſſinn, ohngefaͤhr in<lb/> meinen Jahren, oder hoͤchſtens zwey und zwanzig<lb/> Jahr alt, hat mich zur Vertrauten ihres Jammers<lb/> gemacht. Wenn ich an den Abend denke, wie ſie<lb/> mir im Mondſchein ihre Geſchichte erzaͤhlt hat, das<lb/> Herz blutet mir. Ein Junker aus ihrer Nachbar-<lb/> ſchaft liebte ſie; ſie ihn auch; Er verſprach ihr die<lb/> Heirath, und die Eltern von ihrer Seite warens<lb/> ganz zufrieden. Weil er Officier bey den Baiern<lb/> war, ſo mußt er mit ſeinem Regiment zu der<lb/> Reichsarmee. Er nahm zaͤrtlich von ihr Abſchied,<lb/> verſprach, ihr zu ſchreiben, und ſchickte ihr |auch in<lb/> den erſten zwey Monaten fuͤnf Briefe. Auf ein-<lb/> mal blieben ſie aus. Sie wartete drey, vier Wo-<lb/> chen; war in ſteter Angſt, weil ſie nicht wußte, ob<lb/> er lebendig oder todt ſey? fiel in eine Krankheit;<lb/> phantaſirte, nannte nichts als ihren Braͤutigam,<lb/> und lag ſo vierzehn Tage lang. Als ſie wieder zu<lb/> ſich ſelber kam, war ihre erſte Frage: iſt ein Brief<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [132/0136]
andern Gegenſtand geweiht ſind. Der Menſch
bleibt Menſch, in der Zelle, wie in der Welt! Da
gibts innre Kaͤmpfe! Die armen unſchuldigen Opfer
verdammen ſich und ihr Gefuͤhl, faſten und kaſteyen
ſich, und ringen oft mit der Verzweiflung. Glaub!
ich uͤbertreibe nichts; blos Erfahrung hat mich das
gelehrt. Eine junge Baroneſſinn, ohngefaͤhr in
meinen Jahren, oder hoͤchſtens zwey und zwanzig
Jahr alt, hat mich zur Vertrauten ihres Jammers
gemacht. Wenn ich an den Abend denke, wie ſie
mir im Mondſchein ihre Geſchichte erzaͤhlt hat, das
Herz blutet mir. Ein Junker aus ihrer Nachbar-
ſchaft liebte ſie; ſie ihn auch; Er verſprach ihr die
Heirath, und die Eltern von ihrer Seite warens
ganz zufrieden. Weil er Officier bey den Baiern
war, ſo mußt er mit ſeinem Regiment zu der
Reichsarmee. Er nahm zaͤrtlich von ihr Abſchied,
verſprach, ihr zu ſchreiben, und ſchickte ihr |auch in
den erſten zwey Monaten fuͤnf Briefe. Auf ein-
mal blieben ſie aus. Sie wartete drey, vier Wo-
chen; war in ſteter Angſt, weil ſie nicht wußte, ob
er lebendig oder todt ſey? fiel in eine Krankheit;
phantaſirte, nannte nichts als ihren Braͤutigam,
und lag ſo vierzehn Tage lang. Als ſie wieder zu
ſich ſelber kam, war ihre erſte Frage: iſt ein Brief
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/136 |
| Zitationshilfe: | Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/136>, abgerufen am 01.05.2024. |
