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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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hat euch so was gelehrt? Hört mir einmal ruhig
zu, wenn ihr könnt! -- Seht! daß die Ketzer
Menschen sind, wie ihr, und unser eins, könnt
ihr ja schon daraus sehen: wenn einer davon zum
katholischen Glauben übertrit, so wird er ja nicht
verwandelt; er bleibt, was er vorher war; hat
Augen, Ohren, Nasen, wie wir, ißt und trinkt,
wie wir, und wird um kein Haar anders. Und
daß man alle, die wie wir Menschen sind, und
Fleisch und Blut, wie wir haben, lieben müsse,
werdet ihr doch glauben; es steht hundertmal in
der Bibel geschrieben. Warum sollten wirs auch
nicht thun? Sind wir doch alle von Einem Va-
ter, Adam. Und, nicht wahr? Leute, die Einer-
ley Vater haben, heissen Brüder oder Schwestern,
und die müssen doch einander lieben?

Michel. Das ist wahr, Herr! Aber --

P. Anton. Nun, ihr meynt wohl, die Ke-
tzer könn unser Herr Gott nicht lieb haben; aber
denkt nur einmal nach! Scheint die liebe Sonn
etwa nur in katholische Dörfer, oder nicht auch
in die lutherischen? Haben wir allein Wasser, und
Brod? oder haben's eure lutherische Nachbarn nicht
auch? Regnet's nur bey uns, wenns nöthig ist, oder
auch bey den Lutheranern? Jhr dürft ja nur eure



hat euch ſo was gelehrt? Hoͤrt mir einmal ruhig
zu, wenn ihr koͤnnt! — Seht! daß die Ketzer
Menſchen ſind, wie ihr, und unſer eins, koͤnnt
ihr ja ſchon daraus ſehen: wenn einer davon zum
katholiſchen Glauben uͤbertrit, ſo wird er ja nicht
verwandelt; er bleibt, was er vorher war; hat
Augen, Ohren, Naſen, wie wir, ißt und trinkt,
wie wir, und wird um kein Haar anders. Und
daß man alle, die wie wir Menſchen ſind, und
Fleiſch und Blut, wie wir haben, lieben muͤſſe,
werdet ihr doch glauben; es ſteht hundertmal in
der Bibel geſchrieben. Warum ſollten wirs auch
nicht thun? Sind wir doch alle von Einem Va-
ter, Adam. Und, nicht wahr? Leute, die Einer-
ley Vater haben, heiſſen Bruͤder oder Schweſtern,
und die muͤſſen doch einander lieben?

Michel. Das iſt wahr, Herr! Aber —

P. Anton. Nun, ihr meynt wohl, die Ke-
tzer koͤnn unſer Herr Gott nicht lieb haben; aber
denkt nur einmal nach! Scheint die liebe Sonn
etwa nur in katholiſche Doͤrfer, oder nicht auch
in die lutheriſchen? Haben wir allein Waſſer, und
Brod? oder haben’s eure lutheriſche Nachbarn nicht
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[58/0062] hat euch ſo was gelehrt? Hoͤrt mir einmal ruhig zu, wenn ihr koͤnnt! — Seht! daß die Ketzer Menſchen ſind, wie ihr, und unſer eins, koͤnnt ihr ja ſchon daraus ſehen: wenn einer davon zum katholiſchen Glauben uͤbertrit, ſo wird er ja nicht verwandelt; er bleibt, was er vorher war; hat Augen, Ohren, Naſen, wie wir, ißt und trinkt, wie wir, und wird um kein Haar anders. Und daß man alle, die wie wir Menſchen ſind, und Fleiſch und Blut, wie wir haben, lieben muͤſſe, werdet ihr doch glauben; es ſteht hundertmal in der Bibel geſchrieben. Warum ſollten wirs auch nicht thun? Sind wir doch alle von Einem Va- ter, Adam. Und, nicht wahr? Leute, die Einer- ley Vater haben, heiſſen Bruͤder oder Schweſtern, und die muͤſſen doch einander lieben? Michel. Das iſt wahr, Herr! Aber — P. Anton. Nun, ihr meynt wohl, die Ke- tzer koͤnn unſer Herr Gott nicht lieb haben; aber denkt nur einmal nach! Scheint die liebe Sonn etwa nur in katholiſche Doͤrfer, oder nicht auch in die lutheriſchen? Haben wir allein Waſſer, und Brod? oder haben’s eure lutheriſche Nachbarn nicht auch? Regnet’s nur bey uns, wenns noͤthig iſt, oder auch bey den Lutheranern? Jhr duͤrft ja nur eure

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/62>, abgerufen am 30.04.2024.