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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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Sie hat die Macht schon über ihn, daß er,
So oft sich ihr Gedanke nach ihm sehnt,
Tag oder Nacht, und aus der fernsten Gegend,
Nach ihrem Wohnsitz plötzlich eilen muß.
Wenn dieser Ruf an ihn ergeht, so reißt
Der Faden seines jetzigen Gedankens
Auf Ein Mal von einander, ganz verändert
Erscheint sein Wesen, hell'res Licht durchwittert
Des Geistes Nacht, der längst verschüttete Brunn'
Der rauhen und gedämpften Rede klingt
Mit Ein' Mal hell und sanft, sogar die Miene
Scheint jugendlicher, doch auch schmerzlicher:
Denn gräulich ist verhaßter Liebe Qual.

Drum sinnt er sicherlich in schwerem Gram,
Wie er sich ledig mache dieser Pein;
Dahin auch deut' ich jene Worte mir,
Die er einst fallen lassen gegen mich:
"Willt du mir dienstbar seyn, so gehe hin
Zur Stadt, dort liegt in einem unerforschten Winkel
Ein längst verloren Buch von seltner Schrift,
Das ist geschrieben auf die breiten Blätter
Der Thranuspflanze, so man göttlich nennt,
Das suche du ohn' Unterlaß, und bring' es."
Drauf lächelt' er mitleidig, gleich als hätt' er
Unmögliches verlangt, und redete
Zeither auch weiter nicht davon. Nun aber
Kam mir zufällig jüngst etwas zu Ohren
Von ein paar schmutzigen, unwissenden Burschen,
Sie hat die Macht ſchon über ihn, daß er,
So oft ſich ihr Gedanke nach ihm ſehnt,
Tag oder Nacht, und aus der fernſten Gegend,
Nach ihrem Wohnſitz plötzlich eilen muß.
Wenn dieſer Ruf an ihn ergeht, ſo reißt
Der Faden ſeines jetzigen Gedankens
Auf Ein Mal von einander, ganz verändert
Erſcheint ſein Weſen, hell’res Licht durchwittert
Des Geiſtes Nacht, der längſt verſchüttete Brunn’
Der rauhen und gedämpften Rede klingt
Mit Ein’ Mal hell und ſanft, ſogar die Miene
Scheint jugendlicher, doch auch ſchmerzlicher:
Denn gräulich iſt verhaßter Liebe Qual.

Drum ſinnt er ſicherlich in ſchwerem Gram,
Wie er ſich ledig mache dieſer Pein;
Dahin auch deut’ ich jene Worte mir,
Die er einſt fallen laſſen gegen mich:
„Willt du mir dienſtbar ſeyn, ſo gehe hin
Zur Stadt, dort liegt in einem unerforſchten Winkel
Ein längſt verloren Buch von ſeltner Schrift,
Das iſt geſchrieben auf die breiten Blätter
Der Thranuspflanze, ſo man göttlich nennt,
Das ſuche du ohn’ Unterlaß, und bring’ es.“
Drauf lächelt’ er mitleidig, gleich als hätt’ er
Unmögliches verlangt, und redete
Zeither auch weiter nicht davon. Nun aber
Kam mir zufällig jüngſt etwas zu Ohren
Von ein paar ſchmutzigen, unwiſſenden Burſchen,
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[155/0163] Sie hat die Macht ſchon über ihn, daß er, So oft ſich ihr Gedanke nach ihm ſehnt, Tag oder Nacht, und aus der fernſten Gegend, Nach ihrem Wohnſitz plötzlich eilen muß. Wenn dieſer Ruf an ihn ergeht, ſo reißt Der Faden ſeines jetzigen Gedankens Auf Ein Mal von einander, ganz verändert Erſcheint ſein Weſen, hell’res Licht durchwittert Des Geiſtes Nacht, der längſt verſchüttete Brunn’ Der rauhen und gedämpften Rede klingt Mit Ein’ Mal hell und ſanft, ſogar die Miene Scheint jugendlicher, doch auch ſchmerzlicher: Denn gräulich iſt verhaßter Liebe Qual. Drum ſinnt er ſicherlich in ſchwerem Gram, Wie er ſich ledig mache dieſer Pein; Dahin auch deut’ ich jene Worte mir, Die er einſt fallen laſſen gegen mich: „Willt du mir dienſtbar ſeyn, ſo gehe hin Zur Stadt, dort liegt in einem unerforſchten Winkel Ein längſt verloren Buch von ſeltner Schrift, Das iſt geſchrieben auf die breiten Blätter Der Thranuspflanze, ſo man göttlich nennt, Das ſuche du ohn’ Unterlaß, und bring’ es.“ Drauf lächelt’ er mitleidig, gleich als hätt’ er Unmögliches verlangt, und redete Zeither auch weiter nicht davon. Nun aber Kam mir zufällig jüngſt etwas zu Ohren Von ein paar ſchmutzigen, unwiſſenden Burſchen,

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/163>, abgerufen am 30.04.2024.