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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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Wie wird mir frei und leicht! wie gleitet mir
Die alte Last der Jahre von dem Rücken!
O Zeit, blutsaugendes Gespenst!
Hast du mich endlich satt? so ekel satt
Wie ich dich habe? Ist es möglich? ist
Das Ende nun vorhanden? Freudeschauer
Zuckt durch die Brust! Und soll ich's fassen das?
Und schwindelt nicht das Auge meines Geistes
Noch stets hinunter in den jähen Trichter
Der Zeit? -- Zeit, was heißt dieses Wort?
Ein hohles Wort, das ich um Nichts gehaßt;
Unschuldig ist die Zeit; sie that mir nichts.
Sie wirft die Larve ab und steht auf Einmal
Als Ewigkeit vor mir, dem Staunenden.

Wie neugeboren sieht der müde Wandrer
Am Ziele sich.

Er blickt noch rückwärts auf die leidenvoll
Durchlauf'ne Bahn; er sieht die hohen Berge
Fern hinter sich, voll Wehmuth läßt er sie,
Die stummen Zeugen seines bittern Gangs:
Und so hat meine Seele jetzo Schmerz
Und Heiterkeit zugleich. Ha! fühl' ich mir
Nicht plötzlich Kräfte gnug, auf's Neu' den Kreis
Des schwülen Daseyns zu durchrennen -- Wie?
Was sagt' ich da? Nein! Nein! o güt'ge Götter,
Hört nimmer, was ich nur im Wahnsinn sprach!
Laßt sterben mich! O sterben, sterben! Nehmt,
Wie wird mir frei und leicht! wie gleitet mir
Die alte Laſt der Jahre von dem Rücken!
O Zeit, blutſaugendes Geſpenſt!
Haſt du mich endlich ſatt? ſo ekel ſatt
Wie ich dich habe? Iſt es möglich? iſt
Das Ende nun vorhanden? Freudeſchauer
Zuckt durch die Bruſt! Und ſoll ich’s faſſen das?
Und ſchwindelt nicht das Auge meines Geiſtes
Noch ſtets hinunter in den jähen Trichter
Der Zeit? — Zeit, was heißt dieſes Wort?
Ein hohles Wort, das ich um Nichts gehaßt;
Unſchuldig iſt die Zeit; ſie that mir nichts.
Sie wirft die Larve ab und ſteht auf Einmal
Als Ewigkeit vor mir, dem Staunenden.

Wie neugeboren ſieht der müde Wandrer
Am Ziele ſich.

Er blickt noch rückwärts auf die leidenvoll
Durchlauf’ne Bahn; er ſieht die hohen Berge
Fern hinter ſich, voll Wehmuth läßt er ſie,
Die ſtummen Zeugen ſeines bittern Gangs:
Und ſo hat meine Seele jetzo Schmerz
Und Heiterkeit zugleich. Ha! fühl’ ich mir
Nicht plötzlich Kräfte gnug, auf’s Neu’ den Kreis
Des ſchwülen Daſeyns zu durchrennen — Wie?
Was ſagt’ ich da? Nein! Nein! o güt’ge Götter,
Hört nimmer, was ich nur im Wahnſinn ſprach!
Laßt ſterben mich! O ſterben, ſterben! Nehmt,
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[208/0216] Wie wird mir frei und leicht! wie gleitet mir Die alte Laſt der Jahre von dem Rücken! O Zeit, blutſaugendes Geſpenſt! Haſt du mich endlich ſatt? ſo ekel ſatt Wie ich dich habe? Iſt es möglich? iſt Das Ende nun vorhanden? Freudeſchauer Zuckt durch die Bruſt! Und ſoll ich’s faſſen das? Und ſchwindelt nicht das Auge meines Geiſtes Noch ſtets hinunter in den jähen Trichter Der Zeit? — Zeit, was heißt dieſes Wort? Ein hohles Wort, das ich um Nichts gehaßt; Unſchuldig iſt die Zeit; ſie that mir nichts. Sie wirft die Larve ab und ſteht auf Einmal Als Ewigkeit vor mir, dem Staunenden. Wie neugeboren ſieht der müde Wandrer Am Ziele ſich. Er blickt noch rückwärts auf die leidenvoll Durchlauf’ne Bahn; er ſieht die hohen Berge Fern hinter ſich, voll Wehmuth läßt er ſie, Die ſtummen Zeugen ſeines bittern Gangs: Und ſo hat meine Seele jetzo Schmerz Und Heiterkeit zugleich. Ha! fühl’ ich mir Nicht plötzlich Kräfte gnug, auf’s Neu’ den Kreis Des ſchwülen Daſeyns zu durchrennen — Wie? Was ſagt’ ich da? Nein! Nein! o güt’ge Götter, Hört nimmer, was ich nur im Wahnſinn ſprach! Laßt ſterben mich! O ſterben, ſterben! Nehmt,

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/216>, abgerufen am 27.04.2024.