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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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aller seiner Ahnung, mit all' seiner Hoheit auf ihre
Seele wirken. Die Liebe zu jenem Manne, von ihren
ersten unmerklichen Pulsen bis zu dem bestürzten Zu-
stande des völligen Bewußtseyns, von der Zeit an,
wo ihr Gefühl bereits zur Sehnsucht, zum Verlangen
ward, bis zu dem Gipfel der mächtigsten Leidenschaft --
Alles durchlief sie in Gedanken wieder und Alles schien
ihr unbegreiflich. Sie sah unter leisem Kopfschütteln,
mit schauderndem Lächeln in die reizende Kluft des
Schicksals hinab. Die Augen traten ihr über wie
damals in der Grotte, wo die noch getrennten Ele-
mente ihrer Liebe, durch Noltens unwiderstehliche
Gluth aufgereizt, zum Erstenmal in volle süße Gäh-
rung überschlugen und alle Sinne umhüllten. Sie
hatte nichts zu beweinen, nichts zu bereuen, es waren
die Thränen, die dem Menschen so willig kommen,
wenn er, sich selbst anschauend, das Haupt geduldig
in den Mutterschoos eines allwaltenden Geschicks
verbirgt, das die Waage über ihm schweben läßt; er
betrachtet sich in solchen Momenten mit einer Art ge-
rührter Selbstachtung, die höhere Bedeutsamkeit einer
Lebensepoche macht ihn in seinen eigenen Augen gleich-
sam zu einem seltnen Pflegekinde der Gottheit, es ist,
als fühlte er sich hoch an die Seite seines Genius
gehoben.

Lange, lange noch starrte Constanze, stillver-
sunken, einer Bildsäule gleich an die Fensterpfoste
angelehnt, hinaus in die schöne Nacht. Jezt über-

aller ſeiner Ahnung, mit all’ ſeiner Hoheit auf ihre
Seele wirken. Die Liebe zu jenem Manne, von ihren
erſten unmerklichen Pulſen bis zu dem beſtürzten Zu-
ſtande des völligen Bewußtſeyns, von der Zeit an,
wo ihr Gefühl bereits zur Sehnſucht, zum Verlangen
ward, bis zu dem Gipfel der mächtigſten Leidenſchaft —
Alles durchlief ſie in Gedanken wieder und Alles ſchien
ihr unbegreiflich. Sie ſah unter leiſem Kopfſchütteln,
mit ſchauderndem Lächeln in die reizende Kluft des
Schickſals hinab. Die Augen traten ihr über wie
damals in der Grotte, wo die noch getrennten Ele-
mente ihrer Liebe, durch Noltens unwiderſtehliche
Gluth aufgereizt, zum Erſtenmal in volle ſüße Gäh-
rung überſchlugen und alle Sinne umhüllten. Sie
hatte nichts zu beweinen, nichts zu bereuen, es waren
die Thränen, die dem Menſchen ſo willig kommen,
wenn er, ſich ſelbſt anſchauend, das Haupt geduldig
in den Mutterſchoos eines allwaltenden Geſchicks
verbirgt, das die Waage über ihm ſchweben läßt; er
betrachtet ſich in ſolchen Momenten mit einer Art ge-
rührter Selbſtachtung, die höhere Bedeutſamkeit einer
Lebensepoche macht ihn in ſeinen eigenen Augen gleich-
ſam zu einem ſeltnen Pflegekinde der Gottheit, es iſt,
als fühlte er ſich hoch an die Seite ſeines Genius
gehoben.

Lange, lange noch ſtarrte Conſtanze, ſtillver-
ſunken, einer Bildſäule gleich an die Fenſterpfoſte
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[218/0226] aller ſeiner Ahnung, mit all’ ſeiner Hoheit auf ihre Seele wirken. Die Liebe zu jenem Manne, von ihren erſten unmerklichen Pulſen bis zu dem beſtürzten Zu- ſtande des völligen Bewußtſeyns, von der Zeit an, wo ihr Gefühl bereits zur Sehnſucht, zum Verlangen ward, bis zu dem Gipfel der mächtigſten Leidenſchaft — Alles durchlief ſie in Gedanken wieder und Alles ſchien ihr unbegreiflich. Sie ſah unter leiſem Kopfſchütteln, mit ſchauderndem Lächeln in die reizende Kluft des Schickſals hinab. Die Augen traten ihr über wie damals in der Grotte, wo die noch getrennten Ele- mente ihrer Liebe, durch Noltens unwiderſtehliche Gluth aufgereizt, zum Erſtenmal in volle ſüße Gäh- rung überſchlugen und alle Sinne umhüllten. Sie hatte nichts zu beweinen, nichts zu bereuen, es waren die Thränen, die dem Menſchen ſo willig kommen, wenn er, ſich ſelbſt anſchauend, das Haupt geduldig in den Mutterſchoos eines allwaltenden Geſchicks verbirgt, das die Waage über ihm ſchweben läßt; er betrachtet ſich in ſolchen Momenten mit einer Art ge- rührter Selbſtachtung, die höhere Bedeutſamkeit einer Lebensepoche macht ihn in ſeinen eigenen Augen gleich- ſam zu einem ſeltnen Pflegekinde der Gottheit, es iſt, als fühlte er ſich hoch an die Seite ſeines Genius gehoben. Lange, lange noch ſtarrte Conſtanze, ſtillver- ſunken, einer Bildſäule gleich an die Fenſterpfoſte angelehnt, hinaus in die ſchöne Nacht. Jezt über-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/226>, abgerufen am 29.04.2024.