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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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sich noch ein ganz anderer Gedanke. Entschlossen kehrte
sie zu dem Gegenstande ihres Verdachts zurück und
griff einiges Geschriebene heraus, sie las und las, er-
röthend, erblassend; ihr Busen kämpfte mit lauten
Schlägen; jezt entfällt das Papier ihren Fingern, sie
sinkt auf das Lager, einer Leiche gleich, keines Lautes,
keiner Thräne mächtig.

Ein Pochen an der Thür bringt sie endlich zu sich,
sie fährt auf, und indem sie verworren umherblickt,
lächelt die Arme, wie fragend, ob jenes Entsetzliche ihr
bloß im Schlummer begegnet sey, und lächelt wieder,
aber wie eine Verzweifelte, da das Blatt auf dem Bo-
den ihr die traurige Wahrheit bezeugt.

Es klopfte von Neuem an und eine klägliche
Mädchenstimme ließ sich hören: "Nein! ich kann nicht
ruhen, ich will erfrieren hier, bis ich sie gesprochen
habe, bis sie mir vergeben hat! -- Gnädige Frau!
Liebe! Gute!"

Da keine Antwort erfolgte, bat es wiederholt im
flehentlichsten Tone: "Um Gotteswillen, lassen Sie
Emilien ein, nur auf zwei Minuten, nur auf zwei
Worte! Vergeben Sie mir!"

"Ja, ja doch! geh nur, mein Kind!" erwiderte
Constanze kaum hörbar, und das Mädchen schlich
getröstet weg, ohne alle Ahnung, welchen Schmerz sie
ihrer Herrin bereitet. Wir wagen es nicht, diesen
Schmerz zu schildern. Aber wie alles zum Aeußersten
und Unnatürlichen Gesteigerte sich nicht lange auf die-

ſich noch ein ganz anderer Gedanke. Entſchloſſen kehrte
ſie zu dem Gegenſtande ihres Verdachts zurück und
griff einiges Geſchriebene heraus, ſie las und las, er-
röthend, erblaſſend; ihr Buſen kämpfte mit lauten
Schlägen; jezt entfällt das Papier ihren Fingern, ſie
ſinkt auf das Lager, einer Leiche gleich, keines Lautes,
keiner Thräne mächtig.

Ein Pochen an der Thür bringt ſie endlich zu ſich,
ſie fährt auf, und indem ſie verworren umherblickt,
lächelt die Arme, wie fragend, ob jenes Entſetzliche ihr
bloß im Schlummer begegnet ſey, und lächelt wieder,
aber wie eine Verzweifelte, da das Blatt auf dem Bo-
den ihr die traurige Wahrheit bezeugt.

Es klopfte von Neuem an und eine klägliche
Mädchenſtimme ließ ſich hören: „Nein! ich kann nicht
ruhen, ich will erfrieren hier, bis ich ſie geſprochen
habe, bis ſie mir vergeben hat! — Gnädige Frau!
Liebe! Gute!“

Da keine Antwort erfolgte, bat es wiederholt im
flehentlichſten Tone: „Um Gotteswillen, laſſen Sie
Emilien ein, nur auf zwei Minuten, nur auf zwei
Worte! Vergeben Sie mir!“

„Ja, ja doch! geh nur, mein Kind!“ erwiderte
Conſtanze kaum hörbar, und das Mädchen ſchlich
getröſtet weg, ohne alle Ahnung, welchen Schmerz ſie
ihrer Herrin bereitet. Wir wagen es nicht, dieſen
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[223/0231] ſich noch ein ganz anderer Gedanke. Entſchloſſen kehrte ſie zu dem Gegenſtande ihres Verdachts zurück und griff einiges Geſchriebene heraus, ſie las und las, er- röthend, erblaſſend; ihr Buſen kämpfte mit lauten Schlägen; jezt entfällt das Papier ihren Fingern, ſie ſinkt auf das Lager, einer Leiche gleich, keines Lautes, keiner Thräne mächtig. Ein Pochen an der Thür bringt ſie endlich zu ſich, ſie fährt auf, und indem ſie verworren umherblickt, lächelt die Arme, wie fragend, ob jenes Entſetzliche ihr bloß im Schlummer begegnet ſey, und lächelt wieder, aber wie eine Verzweifelte, da das Blatt auf dem Bo- den ihr die traurige Wahrheit bezeugt. Es klopfte von Neuem an und eine klägliche Mädchenſtimme ließ ſich hören: „Nein! ich kann nicht ruhen, ich will erfrieren hier, bis ich ſie geſprochen habe, bis ſie mir vergeben hat! — Gnädige Frau! Liebe! Gute!“ Da keine Antwort erfolgte, bat es wiederholt im flehentlichſten Tone: „Um Gotteswillen, laſſen Sie Emilien ein, nur auf zwei Minuten, nur auf zwei Worte! Vergeben Sie mir!“ „Ja, ja doch! geh nur, mein Kind!“ erwiderte Conſtanze kaum hörbar, und das Mädchen ſchlich getröſtet weg, ohne alle Ahnung, welchen Schmerz ſie ihrer Herrin bereitet. Wir wagen es nicht, dieſen Schmerz zu ſchildern. Aber wie alles zum Aeußerſten und Unnatürlichen Geſteigerte ſich nicht lange auf die-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/231>, abgerufen am 29.04.2024.