Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

ser Höhe erhält, so fiel alsbald ein unwiderstehlicher
tiefer Schlaf über die Erschöpfte her und versenkte
sie in ein wohlthätiges Vergessen ihres mitleidswer-
then Zustandes.

Eben so ruhig und gelassen wie vor einer Stunde,
da der Blick der Sterne das Gebet einer Glücklichen
zu segnen schien, funkelten sie jezt auf das Lager des
unglücklichsten Weibes herab. So rasch kann sich an
die höchste irdische Wonne das Daseyn unübersehba-
ren Jammers drängen.


Noch ehe es vollkommen Tag geworden, erwachte
Constanze, und leider schnell genug besann sie sich
auf den betäubenden Schlag. Sie bat Gott um Stär-
kung und Fassung, stand ermattet auf und ordnete
mit trockenem Aug' die Brieftasche, woraus ihr zum
Ueberflusse noch eine Haarlocke, ohne Zweifel von der
unbekannten Briefstellerin, entgegenfiel.

Sie erschien sich selber im Spiegel wie ein ver-
ändertes Wesen, das, seitdem etwas Ungeheures mit
ihm vorgegangen, gar nicht mehr in die bisherigen
Umgebungen, in diese Wände, unter diese Geräthe
passen wolle; es schien sie Alles umher wie einen
lange entfernten Gast, ja als eine Abgeschiedene an-
zublicken, und sie selbst kam sich mit ihrem schwanken
Tritt, mit ihrem Schmerz-verklärten, stillen Gefühl
beinahe wie ein erst kurz aus dem Grabe Entlassenes

ſer Höhe erhält, ſo fiel alsbald ein unwiderſtehlicher
tiefer Schlaf über die Erſchöpfte her und verſenkte
ſie in ein wohlthätiges Vergeſſen ihres mitleidswer-
then Zuſtandes.

Eben ſo ruhig und gelaſſen wie vor einer Stunde,
da der Blick der Sterne das Gebet einer Glücklichen
zu ſegnen ſchien, funkelten ſie jezt auf das Lager des
unglücklichſten Weibes herab. So raſch kann ſich an
die höchſte irdiſche Wonne das Daſeyn unüberſehba-
ren Jammers drängen.


Noch ehe es vollkommen Tag geworden, erwachte
Conſtanze, und leider ſchnell genug beſann ſie ſich
auf den betäubenden Schlag. Sie bat Gott um Stär-
kung und Faſſung, ſtand ermattet auf und ordnete
mit trockenem Aug’ die Brieftaſche, woraus ihr zum
Ueberfluſſe noch eine Haarlocke, ohne Zweifel von der
unbekannten Briefſtellerin, entgegenfiel.

Sie erſchien ſich ſelber im Spiegel wie ein ver-
ändertes Weſen, das, ſeitdem etwas Ungeheures mit
ihm vorgegangen, gar nicht mehr in die bisherigen
Umgebungen, in dieſe Wände, unter dieſe Geräthe
paſſen wolle; es ſchien ſie Alles umher wie einen
lange entfernten Gaſt, ja als eine Abgeſchiedene an-
zublicken, und ſie ſelbſt kam ſich mit ihrem ſchwanken
Tritt, mit ihrem Schmerz-verklärten, ſtillen Gefühl
beinahe wie ein erſt kurz aus dem Grabe Entlaſſenes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0232" n="224"/>
&#x017F;er Höhe erhält, &#x017F;o fiel alsbald ein unwider&#x017F;tehlicher<lb/>
tiefer Schlaf über die Er&#x017F;chöpfte her und ver&#x017F;enkte<lb/>
&#x017F;ie in ein wohlthätiges Verge&#x017F;&#x017F;en ihres mitleidswer-<lb/>
then Zu&#x017F;tandes.</p><lb/>
          <p>Eben &#x017F;o ruhig und gela&#x017F;&#x017F;en wie vor einer Stunde,<lb/>
da der Blick der Sterne das Gebet einer Glücklichen<lb/>
zu &#x017F;egnen &#x017F;chien, funkelten &#x017F;ie jezt auf das Lager des<lb/>
unglücklich&#x017F;ten Weibes herab. So ra&#x017F;ch kann &#x017F;ich an<lb/>
die höch&#x017F;te irdi&#x017F;che Wonne das Da&#x017F;eyn unüber&#x017F;ehba-<lb/>
ren Jammers drängen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Noch ehe es vollkommen Tag geworden, erwachte<lb/><hi rendition="#g">Con&#x017F;tanze</hi>, und leider &#x017F;chnell genug be&#x017F;ann &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
auf den betäubenden Schlag. Sie bat Gott um Stär-<lb/>
kung und Fa&#x017F;&#x017F;ung, &#x017F;tand ermattet auf und ordnete<lb/>
mit trockenem Aug&#x2019; die Briefta&#x017F;che, woraus ihr zum<lb/>
Ueberflu&#x017F;&#x017F;e noch eine Haarlocke, ohne Zweifel von der<lb/>
unbekannten Brief&#x017F;tellerin, entgegenfiel.</p><lb/>
          <p>Sie er&#x017F;chien &#x017F;ich &#x017F;elber im Spiegel wie ein ver-<lb/>
ändertes We&#x017F;en, das, &#x017F;eitdem etwas Ungeheures mit<lb/>
ihm vorgegangen, gar nicht mehr in die bisherigen<lb/>
Umgebungen, in die&#x017F;e Wände, unter die&#x017F;e Geräthe<lb/>
pa&#x017F;&#x017F;en wolle; es &#x017F;chien &#x017F;ie Alles umher wie einen<lb/>
lange entfernten Ga&#x017F;t, ja als eine Abge&#x017F;chiedene an-<lb/>
zublicken, und &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t kam &#x017F;ich mit ihrem &#x017F;chwanken<lb/>
Tritt, mit ihrem Schmerz-verklärten, &#x017F;tillen Gefühl<lb/>
beinahe wie ein er&#x017F;t kurz aus dem Grabe Entla&#x017F;&#x017F;enes<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0232] ſer Höhe erhält, ſo fiel alsbald ein unwiderſtehlicher tiefer Schlaf über die Erſchöpfte her und verſenkte ſie in ein wohlthätiges Vergeſſen ihres mitleidswer- then Zuſtandes. Eben ſo ruhig und gelaſſen wie vor einer Stunde, da der Blick der Sterne das Gebet einer Glücklichen zu ſegnen ſchien, funkelten ſie jezt auf das Lager des unglücklichſten Weibes herab. So raſch kann ſich an die höchſte irdiſche Wonne das Daſeyn unüberſehba- ren Jammers drängen. Noch ehe es vollkommen Tag geworden, erwachte Conſtanze, und leider ſchnell genug beſann ſie ſich auf den betäubenden Schlag. Sie bat Gott um Stär- kung und Faſſung, ſtand ermattet auf und ordnete mit trockenem Aug’ die Brieftaſche, woraus ihr zum Ueberfluſſe noch eine Haarlocke, ohne Zweifel von der unbekannten Briefſtellerin, entgegenfiel. Sie erſchien ſich ſelber im Spiegel wie ein ver- ändertes Weſen, das, ſeitdem etwas Ungeheures mit ihm vorgegangen, gar nicht mehr in die bisherigen Umgebungen, in dieſe Wände, unter dieſe Geräthe paſſen wolle; es ſchien ſie Alles umher wie einen lange entfernten Gaſt, ja als eine Abgeſchiedene an- zublicken, und ſie ſelbſt kam ſich mit ihrem ſchwanken Tritt, mit ihrem Schmerz-verklärten, ſtillen Gefühl beinahe wie ein erſt kurz aus dem Grabe Entlaſſenes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/232
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/232>, abgerufen am 29.04.2024.