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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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vor, das noch nicht festen Fuß gefaßt und den Ein-
druck des lezten Todeskrampfs nur nach und nach los
werden kann.

Indessen sie sich langsam ankleidete, wunderte sie
selbst ihre Ruhe, die freilich mehr Stumpfheit zu
nennen war. Sie eilte aus dem traurigen Gemach
und hinüber in die vorderen Zimmer, wo noch Nie-
mand war. Bald erschien die Morgensonne in den
Fenstern und lud zu Heiterkeit und Leben ein. Ge-
dankenlos schaute Constanze durch die Scheiben,
und um nur etwas zu thun, rieb sie die Meubles
mit dem Staubtuch ab, wobei sie manchmal zerstreut
inne hielt. -- Emilie trat herein, voll Erstaunen,
ihre Gebieterin schon hier zu treffen. "Ich habe dir
dein Geschäft abgenommen!" sagte die Gräfin freund-
lich, "siehst du, zum Zeichen, daß ich wieder gut bin.
Aber den Gefallen thu mir und rede kein Wort wei-
ter darüber." Ein warmer Handkuß dankte der
Gütigen.

Sehr willkommen war es der sonderbar gestimm-
ten Frau, als jezt auch ihr Bruder erschien. "Guten
Tag, mein Schwesterchen! So früh wie der Vogel
schon auf? Die Sorge um das Gewächshaus trieb
mich aus den Federn; das war eine grimmkalte Nacht,
mein Thermometer zeigt fast fünf und zwanzig; ich
muß nur nachsehen, ob unten nichts gelitten hat."
"Ich darf dich begleiten!" sagte die Gräfin und warf
die Saloppe um. Ihr Wesen, erzwungen munter und

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vor, das noch nicht feſten Fuß gefaßt und den Ein-
druck des lezten Todeskrampfs nur nach und nach los
werden kann.

Indeſſen ſie ſich langſam ankleidete, wunderte ſie
ſelbſt ihre Ruhe, die freilich mehr Stumpfheit zu
nennen war. Sie eilte aus dem traurigen Gemach
und hinüber in die vorderen Zimmer, wo noch Nie-
mand war. Bald erſchien die Morgenſonne in den
Fenſtern und lud zu Heiterkeit und Leben ein. Ge-
dankenlos ſchaute Conſtanze durch die Scheiben,
und um nur etwas zu thun, rieb ſie die Meubles
mit dem Staubtuch ab, wobei ſie manchmal zerſtreut
inne hielt. — Emilie trat herein, voll Erſtaunen,
ihre Gebieterin ſchon hier zu treffen. „Ich habe dir
dein Geſchäft abgenommen!“ ſagte die Gräfin freund-
lich, „ſiehſt du, zum Zeichen, daß ich wieder gut bin.
Aber den Gefallen thu mir und rede kein Wort wei-
ter darüber.“ Ein warmer Handkuß dankte der
Gütigen.

Sehr willkommen war es der ſonderbar geſtimm-
ten Frau, als jezt auch ihr Bruder erſchien. „Guten
Tag, mein Schweſterchen! So früh wie der Vogel
ſchon auf? Die Sorge um das Gewächshaus trieb
mich aus den Federn; das war eine grimmkalte Nacht,
mein Thermometer zeigt faſt fünf und zwanzig; ich
muß nur nachſehen, ob unten nichts gelitten hat.“
„Ich darf dich begleiten!“ ſagte die Gräfin und warf
die Saloppe um. Ihr Weſen, erzwungen munter und

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[225/0233] vor, das noch nicht feſten Fuß gefaßt und den Ein- druck des lezten Todeskrampfs nur nach und nach los werden kann. Indeſſen ſie ſich langſam ankleidete, wunderte ſie ſelbſt ihre Ruhe, die freilich mehr Stumpfheit zu nennen war. Sie eilte aus dem traurigen Gemach und hinüber in die vorderen Zimmer, wo noch Nie- mand war. Bald erſchien die Morgenſonne in den Fenſtern und lud zu Heiterkeit und Leben ein. Ge- dankenlos ſchaute Conſtanze durch die Scheiben, und um nur etwas zu thun, rieb ſie die Meubles mit dem Staubtuch ab, wobei ſie manchmal zerſtreut inne hielt. — Emilie trat herein, voll Erſtaunen, ihre Gebieterin ſchon hier zu treffen. „Ich habe dir dein Geſchäft abgenommen!“ ſagte die Gräfin freund- lich, „ſiehſt du, zum Zeichen, daß ich wieder gut bin. Aber den Gefallen thu mir und rede kein Wort wei- ter darüber.“ Ein warmer Handkuß dankte der Gütigen. Sehr willkommen war es der ſonderbar geſtimm- ten Frau, als jezt auch ihr Bruder erſchien. „Guten Tag, mein Schweſterchen! So früh wie der Vogel ſchon auf? Die Sorge um das Gewächshaus trieb mich aus den Federn; das war eine grimmkalte Nacht, mein Thermometer zeigt faſt fünf und zwanzig; ich muß nur nachſehen, ob unten nichts gelitten hat.“ „Ich darf dich begleiten!“ ſagte die Gräfin und warf die Saloppe um. Ihr Weſen, erzwungen munter und 15

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/233>, abgerufen am 29.04.2024.