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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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Stelle aber war ihr besonders merkwürdig. "Ich be-
fand mich," hieß es, "diese lezte Zeit her in einem
vielleicht nicht ganz löblichen Rausche von Zerstreuun-
gen aller Art, wobei denn die geistige Gestalt meiner
Agnes doch immer auf's lebendigste durchblickte. Ja,
ich darf dir wohl gestehen, daß ich seit der glücklichen
Beilegung jenes argwöhnischen Skrupels mit doppelter
Innigkeit in dir lebe."

Die Aeußerung sah fast aus wie ein verstecktes
Geständniß seiner Herzensverirrung, das ihm vielleicht
sein Gewissen nothdürftig abgedrungen. Diese Verir-
rung selbst konnte nunmehr in Constanzens Augen,
wenn auch keinen Entschuldigungsgrund, doch eine Art Er-
klärung für Noltens Betragen abgeben, wenn sie an-
nahm, daß das Mißverständniß, wovon sie auch in ei-
nem Briefe Agnesens eine Spur gefunden, der An-
laß zu einer heftigen und nachhaltigen Verstimmung
für Theobald geworden, daß er, seinem extremen
Charakter nicht ungemäß, sich in einen desperaten Wech-
sel gestürzt habe, und daß sie als das Opfer dienen
müssen. Seine Bekehrung war natürlich in die Zeit
zwischen gestern und jener Lustpartie gefallen, und Allem
nach unterzog er sich ihr sehr willig.

So viel Wahrscheinliches diese Schlüsse hat-
ten, und so sehr sie auch geeignet schienen, ein wenig-
stens erträgliches Licht auf Noltens Benehmen zu
werfen, so wenig Trost gaben sie der schönen Frau.
Denn von dem Augenblicke an, wo ihre Achtung für

Stelle aber war ihr beſonders merkwürdig. „Ich be-
fand mich,“ hieß es, „dieſe lezte Zeit her in einem
vielleicht nicht ganz löblichen Rauſche von Zerſtreuun-
gen aller Art, wobei denn die geiſtige Geſtalt meiner
Agnes doch immer auf’s lebendigſte durchblickte. Ja,
ich darf dir wohl geſtehen, daß ich ſeit der glücklichen
Beilegung jenes argwöhniſchen Skrupels mit doppelter
Innigkeit in dir lebe.“

Die Aeußerung ſah faſt aus wie ein verſtecktes
Geſtändniß ſeiner Herzensverirrung, das ihm vielleicht
ſein Gewiſſen nothdürftig abgedrungen. Dieſe Verir-
rung ſelbſt konnte nunmehr in Conſtanzens Augen,
wenn auch keinen Entſchuldigungsgrund, doch eine Art Er-
klärung für Noltens Betragen abgeben, wenn ſie an-
nahm, daß das Mißverſtändniß, wovon ſie auch in ei-
nem Briefe Agneſens eine Spur gefunden, der An-
laß zu einer heftigen und nachhaltigen Verſtimmung
für Theobald geworden, daß er, ſeinem extremen
Charakter nicht ungemäß, ſich in einen deſperaten Wech-
ſel geſtürzt habe, und daß ſie als das Opfer dienen
müſſen. Seine Bekehrung war natürlich in die Zeit
zwiſchen geſtern und jener Luſtpartie gefallen, und Allem
nach unterzog er ſich ihr ſehr willig.

So viel Wahrſcheinliches dieſe Schlüſſe hat-
ten, und ſo ſehr ſie auch geeignet ſchienen, ein wenig-
ſtens erträgliches Licht auf Noltens Benehmen zu
werfen, ſo wenig Troſt gaben ſie der ſchönen Frau.
Denn von dem Augenblicke an, wo ihre Achtung für

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[231/0239] Stelle aber war ihr beſonders merkwürdig. „Ich be- fand mich,“ hieß es, „dieſe lezte Zeit her in einem vielleicht nicht ganz löblichen Rauſche von Zerſtreuun- gen aller Art, wobei denn die geiſtige Geſtalt meiner Agnes doch immer auf’s lebendigſte durchblickte. Ja, ich darf dir wohl geſtehen, daß ich ſeit der glücklichen Beilegung jenes argwöhniſchen Skrupels mit doppelter Innigkeit in dir lebe.“ Die Aeußerung ſah faſt aus wie ein verſtecktes Geſtändniß ſeiner Herzensverirrung, das ihm vielleicht ſein Gewiſſen nothdürftig abgedrungen. Dieſe Verir- rung ſelbſt konnte nunmehr in Conſtanzens Augen, wenn auch keinen Entſchuldigungsgrund, doch eine Art Er- klärung für Noltens Betragen abgeben, wenn ſie an- nahm, daß das Mißverſtändniß, wovon ſie auch in ei- nem Briefe Agneſens eine Spur gefunden, der An- laß zu einer heftigen und nachhaltigen Verſtimmung für Theobald geworden, daß er, ſeinem extremen Charakter nicht ungemäß, ſich in einen deſperaten Wech- ſel geſtürzt habe, und daß ſie als das Opfer dienen müſſen. Seine Bekehrung war natürlich in die Zeit zwiſchen geſtern und jener Luſtpartie gefallen, und Allem nach unterzog er ſich ihr ſehr willig. So viel Wahrſcheinliches dieſe Schlüſſe hat- ten, und ſo ſehr ſie auch geeignet ſchienen, ein wenig- ſtens erträgliches Licht auf Noltens Benehmen zu werfen, ſo wenig Troſt gaben ſie der ſchönen Frau. Denn von dem Augenblicke an, wo ihre Achtung für

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/239>, abgerufen am 29.04.2024.