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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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und sie glaubte in ihm den Verführer entdeckt zu
haben.

Theilnehmend blickte sie auf's Neue nach den Brie-
fen Agnesens, sie enthielt sich nicht, den reinen har-
monischen Sinn zu bewundern, welcher sich in jedem
Worte des Mädchens aussprach. Arme Agnes! sagte
sie, armes betrogenes Kind! Ist es möglich? sollte er
sich nicht der Sünde gefürchtet haben, diese Seele zu
hintergehen, wenn er sie auch nur so weit kennen ge-
lernt hatte, als ich sie aus diesen Blättern kennen
lernte? Gütiger Gott! solch ein Lamm und solch eine
Schlange, wie kommen sie zusammen? Mich hat Got-
tes Finger noch zu rechter Zeit gewarnt, aber sie --
thue ich Recht, wenn ich sie ihrem Schicksal überlasse?
ist's nun nicht an mir, zu warnen? Ja, wahrlich,
das kommt mir zu -- -- Und doch, es könnte übereilt
seyn; wer weiß, ob ich Schlimmes nicht schlimmer machte,
ob der Verräther, wenn der Himmel ihn noch retten
will, nicht einzig durch die Liebe dieses Engels zu ret-
ten ist?

Der lezte Zweifel über die Gesinnungen Noltens
verschwand vollends, als ein Dokument von seiner eige-
nen Hand zum Vorschein kam -- das Koncept eines
Schreibens an die Braut, das erst gestern entworfen
worden war. Mit einem tiefen Gefühle von Unwillen,
von Wehmuth, von Verachtung, ja von Schauder ver-
nahm sie hier die Sprache der beredtesten Liebe und
einen sehr redlichen, männlich klingenden Ton. Eine

und ſie glaubte in ihm den Verführer entdeckt zu
haben.

Theilnehmend blickte ſie auf’s Neue nach den Brie-
fen Agneſens, ſie enthielt ſich nicht, den reinen har-
moniſchen Sinn zu bewundern, welcher ſich in jedem
Worte des Mädchens ausſprach. Arme Agnes! ſagte
ſie, armes betrogenes Kind! Iſt es möglich? ſollte er
ſich nicht der Sünde gefürchtet haben, dieſe Seele zu
hintergehen, wenn er ſie auch nur ſo weit kennen ge-
lernt hatte, als ich ſie aus dieſen Blättern kennen
lernte? Gütiger Gott! ſolch ein Lamm und ſolch eine
Schlange, wie kommen ſie zuſammen? Mich hat Got-
tes Finger noch zu rechter Zeit gewarnt, aber ſie
thue ich Recht, wenn ich ſie ihrem Schickſal überlaſſe?
iſt’s nun nicht an mir, zu warnen? Ja, wahrlich,
das kommt mir zu — — Und doch, es könnte übereilt
ſeyn; wer weiß, ob ich Schlimmes nicht ſchlimmer machte,
ob der Verräther, wenn der Himmel ihn noch retten
will, nicht einzig durch die Liebe dieſes Engels zu ret-
ten iſt?

Der lezte Zweifel über die Geſinnungen Noltens
verſchwand vollends, als ein Dokument von ſeiner eige-
nen Hand zum Vorſchein kam — das Koncept eines
Schreibens an die Braut, das erſt geſtern entworfen
worden war. Mit einem tiefen Gefühle von Unwillen,
von Wehmuth, von Verachtung, ja von Schauder ver-
nahm ſie hier die Sprache der beredteſten Liebe und
einen ſehr redlichen, männlich klingenden Ton. Eine

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[230/0238] und ſie glaubte in ihm den Verführer entdeckt zu haben. Theilnehmend blickte ſie auf’s Neue nach den Brie- fen Agneſens, ſie enthielt ſich nicht, den reinen har- moniſchen Sinn zu bewundern, welcher ſich in jedem Worte des Mädchens ausſprach. Arme Agnes! ſagte ſie, armes betrogenes Kind! Iſt es möglich? ſollte er ſich nicht der Sünde gefürchtet haben, dieſe Seele zu hintergehen, wenn er ſie auch nur ſo weit kennen ge- lernt hatte, als ich ſie aus dieſen Blättern kennen lernte? Gütiger Gott! ſolch ein Lamm und ſolch eine Schlange, wie kommen ſie zuſammen? Mich hat Got- tes Finger noch zu rechter Zeit gewarnt, aber ſie — thue ich Recht, wenn ich ſie ihrem Schickſal überlaſſe? iſt’s nun nicht an mir, zu warnen? Ja, wahrlich, das kommt mir zu — — Und doch, es könnte übereilt ſeyn; wer weiß, ob ich Schlimmes nicht ſchlimmer machte, ob der Verräther, wenn der Himmel ihn noch retten will, nicht einzig durch die Liebe dieſes Engels zu ret- ten iſt? Der lezte Zweifel über die Geſinnungen Noltens verſchwand vollends, als ein Dokument von ſeiner eige- nen Hand zum Vorſchein kam — das Koncept eines Schreibens an die Braut, das erſt geſtern entworfen worden war. Mit einem tiefen Gefühle von Unwillen, von Wehmuth, von Verachtung, ja von Schauder ver- nahm ſie hier die Sprache der beredteſten Liebe und einen ſehr redlichen, männlich klingenden Ton. Eine

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/238>, abgerufen am 29.04.2024.