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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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kein Professor ordinarius der schönen Künste beach-
selzucken soll, weil ich ihn einem Professori ordinario
sicherlich nicht erzählen werde. Oder schändet es in der
That einen vernünftigen Mann, den sein Beruf selber
auf Entdeckung originaler Formen hinweiset, eine Zeit-
lang der Beobachter von wilden Leuten zu seyn, wenn
er unter ihnen unerschöpflichen Stoff, die überraschend-
sten Züge, den Menschen in seiner gesundesten physi-
schen Entwicklung findet, und dabei die übrige Natur
wie mit neuen Augen, mit doppelter Empfänglichkeit
anschaut? Ich lerne mit jeder Stunde und die Leute
sind die Gefälligkeit selbst gegen mich. Einiger Eigen-
nutz ist freilich immer dabei; meine Freigebigkeit behagt
ihnen, aber mich wird sie nie gereuen.

Einen Tag später.
Ich muß lächeln, wenn ich mein gestriges Rai-
sonnement von Malerstudium und Kunstgewinn wie-
der lese. Es mag seine Richtigkeit damit haben, aber
wie käme diese hochtrabende Selbstrechtfertigung hie-
her, wenn nicht noch etwas Anderes dahinter stäke,
um was ich mir mit guter Art einen Lappen hängen
wollte? Doch ich gestehe ja, daß Loskine schon an
und für sich allein die Mühe verlohnen könnte, sich
eine Woche lang mit dem Zug herum zu treiben.
Ich kann dieß Geschöpf nicht ansehen, ohne die Be-
wunderung immer neuer geistiger, wie körperlicher
Reize. Sie fesselt mich unwiderstehlich, und wäre es

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kein Professor ordinarius der ſchönen Künſte beach-
ſelzucken ſoll, weil ich ihn einem Professori ordinario
ſicherlich nicht erzählen werde. Oder ſchändet es in der
That einen vernünftigen Mann, den ſein Beruf ſelber
auf Entdeckung originaler Formen hinweiſet, eine Zeit-
lang der Beobachter von wilden Leuten zu ſeyn, wenn
er unter ihnen unerſchöpflichen Stoff, die überraſchend-
ſten Züge, den Menſchen in ſeiner geſundeſten phyſi-
ſchen Entwicklung findet, und dabei die übrige Natur
wie mit neuen Augen, mit doppelter Empfänglichkeit
anſchaut? Ich lerne mit jeder Stunde und die Leute
ſind die Gefälligkeit ſelbſt gegen mich. Einiger Eigen-
nutz iſt freilich immer dabei; meine Freigebigkeit behagt
ihnen, aber mich wird ſie nie gereuen.

Einen Tag ſpäter.
Ich muß lächeln, wenn ich mein geſtriges Rai-
ſonnement von Malerſtudium und Kunſtgewinn wie-
der leſe. Es mag ſeine Richtigkeit damit haben, aber
wie käme dieſe hochtrabende Selbſtrechtfertigung hie-
her, wenn nicht noch etwas Anderes dahinter ſtäke,
um was ich mir mit guter Art einen Lappen hängen
wollte? Doch ich geſtehe ja, daß Loskine ſchon an
und für ſich allein die Mühe verlohnen könnte, ſich
eine Woche lang mit dem Zug herum zu treiben.
Ich kann dieß Geſchöpf nicht anſehen, ohne die Be-
wunderung immer neuer geiſtiger, wie körperlicher
Reize. Sie feſſelt mich unwiderſtehlich, und wäre es

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[305/0313] kein Professor ordinarius der ſchönen Künſte beach- ſelzucken ſoll, weil ich ihn einem Professori ordinario ſicherlich nicht erzählen werde. Oder ſchändet es in der That einen vernünftigen Mann, den ſein Beruf ſelber auf Entdeckung originaler Formen hinweiſet, eine Zeit- lang der Beobachter von wilden Leuten zu ſeyn, wenn er unter ihnen unerſchöpflichen Stoff, die überraſchend- ſten Züge, den Menſchen in ſeiner geſundeſten phyſi- ſchen Entwicklung findet, und dabei die übrige Natur wie mit neuen Augen, mit doppelter Empfänglichkeit anſchaut? Ich lerne mit jeder Stunde und die Leute ſind die Gefälligkeit ſelbſt gegen mich. Einiger Eigen- nutz iſt freilich immer dabei; meine Freigebigkeit behagt ihnen, aber mich wird ſie nie gereuen. Einen Tag ſpäter. Ich muß lächeln, wenn ich mein geſtriges Rai- ſonnement von Malerſtudium und Kunſtgewinn wie- der leſe. Es mag ſeine Richtigkeit damit haben, aber wie käme dieſe hochtrabende Selbſtrechtfertigung hie- her, wenn nicht noch etwas Anderes dahinter ſtäke, um was ich mir mit guter Art einen Lappen hängen wollte? Doch ich geſtehe ja, daß Loskine ſchon an und für ſich allein die Mühe verlohnen könnte, ſich eine Woche lang mit dem Zug herum zu treiben. Ich kann dieß Geſchöpf nicht anſehen, ohne die Be- wunderung immer neuer geiſtiger, wie körperlicher Reize. Sie feſſelt mich unwiderſtehlich, und wäre es 20

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/313>, abgerufen am 02.05.2024.