Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Der hohe Styl der Kunst
Gelehrten in Schlafmützen mögen sie noch so sehr verachten
und verschreyen: so muß doch jeder Kenner das Faustrecht
des 12ten und 13ten Jahrhunderts als ein Kunstwerk des
höchsten Styls bewundern; und unsre Nation, die anfangs keine
Städte duldete, und hernach das bürgerliche Leben mit eben
dem Auge ansahe, womit wir jezt ein flämisches Stilleleben
betrachten; die folglich auch keine große Werke der bildenden
Künste hervorbringen konnte, und solche vielleicht von ihrer
Höhe als kleine Fertigkeiten der Handwerker bewunderte, solte
billig diese große Periode studiren, und das Genie und den
Geist kennen lernen, welcher nicht in Stein und Marmor,
sondern am Menschen selbst arbeitete, und so wohl seine Em-
pfindungen als seine Stärke auf eine Art veredelte, wovon wir
uns jezt kaum Begriffe machen können. Die einzelnen Rau-
bereyen, welche zufälliger Weise dabey unterliefen, sind nichts
in Vergleichung der Verwüstungen, so unsre heutigen Kriege
anrichten. Die Sorgfalt, womit jene von den Schriftstellern
bemerkt sind, zeugt von ihrer Seltenheit; und die gewöhn-
liche Beschuldigung, daß in den Zeiten des Faustrechts alle
andre Rechte verletzt und verdunkelt worden, ist sicher falsch,
wenigstens noch zur Zeit unerwiesen, und eine Ausflucht ein-
ander nachschreibender Gelehrten, welche die Privatrechte der
damaligen Zeit nicht aufspüren wollen. Es werden jezt in ei-
nem Feldzuge mehrere Menschen unglücklich gemacht, als da-
mals in einem ganzen Jahrhundert. Die Menge der Uebel
macht, daß der heutige Geschichtschreiber ihrer nicht einmal
gedenkt; und das Kriegsrecht der jetzigen Zeit bestehet in dem
Willen des stärksten. Unsre ganze Kriegesverfassung läßt
keiner persönlichen Tapferkeit Raum; Es sind geschleuderte
Maßen ohne Seele, welche das Schicksal der Völker entschei-
den; und der ungeschickteste Mensch, welcher nur seine Stelle
wohl ausfüllt, hat eben den Antheil am Siege, welchen der

edel-

Der hohe Styl der Kunſt
Gelehrten in Schlafmuͤtzen moͤgen ſie noch ſo ſehr verachten
und verſchreyen: ſo muß doch jeder Kenner das Fauſtrecht
des 12ten und 13ten Jahrhunderts als ein Kunſtwerk des
hoͤchſten Styls bewundern; und unſre Nation, die anfangs keine
Staͤdte duldete, und hernach das buͤrgerliche Leben mit eben
dem Auge anſahe, womit wir jezt ein flaͤmiſches Stilleleben
betrachten; die folglich auch keine große Werke der bildenden
Kuͤnſte hervorbringen konnte, und ſolche vielleicht von ihrer
Hoͤhe als kleine Fertigkeiten der Handwerker bewunderte, ſolte
billig dieſe große Periode ſtudiren, und das Genie und den
Geiſt kennen lernen, welcher nicht in Stein und Marmor,
ſondern am Menſchen ſelbſt arbeitete, und ſo wohl ſeine Em-
pfindungen als ſeine Staͤrke auf eine Art veredelte, wovon wir
uns jezt kaum Begriffe machen koͤnnen. Die einzelnen Rau-
bereyen, welche zufaͤlliger Weiſe dabey unterliefen, ſind nichts
in Vergleichung der Verwuͤſtungen, ſo unſre heutigen Kriege
anrichten. Die Sorgfalt, womit jene von den Schriftſtellern
bemerkt ſind, zeugt von ihrer Seltenheit; und die gewoͤhn-
liche Beſchuldigung, daß in den Zeiten des Fauſtrechts alle
andre Rechte verletzt und verdunkelt worden, iſt ſicher falſch,
wenigſtens noch zur Zeit unerwieſen, und eine Ausflucht ein-
ander nachſchreibender Gelehrten, welche die Privatrechte der
damaligen Zeit nicht aufſpuͤren wollen. Es werden jezt in ei-
nem Feldzuge mehrere Menſchen ungluͤcklich gemacht, als da-
mals in einem ganzen Jahrhundert. Die Menge der Uebel
macht, daß der heutige Geſchichtſchreiber ihrer nicht einmal
gedenkt; und das Kriegsrecht der jetzigen Zeit beſtehet in dem
Willen des ſtaͤrkſten. Unſre ganze Kriegesverfaſſung laͤßt
keiner perſoͤnlichen Tapferkeit Raum; Es ſind geſchleuderte
Maßen ohne Seele, welche das Schickſal der Voͤlker entſchei-
den; und der ungeſchickteſte Menſch, welcher nur ſeine Stelle
wohl ausfuͤllt, hat eben den Antheil am Siege, welchen der

edel-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0336" n="218"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Der hohe Styl der Kun&#x017F;t</hi></fw><lb/>
Gelehrten in Schlafmu&#x0364;tzen mo&#x0364;gen &#x017F;ie noch &#x017F;o &#x017F;ehr verachten<lb/>
und ver&#x017F;chreyen: &#x017F;o muß doch jeder Kenner das Fau&#x017F;trecht<lb/>
des 12ten und 13ten Jahrhunderts als ein Kun&#x017F;twerk des<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;ten Styls bewundern; und un&#x017F;re Nation, die anfangs keine<lb/>
Sta&#x0364;dte duldete, und hernach das bu&#x0364;rgerliche Leben mit eben<lb/>
dem Auge an&#x017F;ahe, womit wir jezt ein fla&#x0364;mi&#x017F;ches Stilleleben<lb/>
betrachten; die folglich auch keine große Werke der bildenden<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te hervorbringen konnte, und &#x017F;olche vielleicht von ihrer<lb/>
Ho&#x0364;he als kleine Fertigkeiten der Handwerker bewunderte, &#x017F;olte<lb/>
billig die&#x017F;e große Periode &#x017F;tudiren, und das Genie und den<lb/>
Gei&#x017F;t kennen lernen, welcher nicht in Stein und Marmor,<lb/>
&#x017F;ondern am Men&#x017F;chen &#x017F;elb&#x017F;t arbeitete, und &#x017F;o wohl &#x017F;eine Em-<lb/>
pfindungen als &#x017F;eine Sta&#x0364;rke auf eine Art veredelte, wovon wir<lb/>
uns jezt kaum Begriffe machen ko&#x0364;nnen. Die einzelnen Rau-<lb/>
bereyen, welche zufa&#x0364;lliger Wei&#x017F;e dabey unterliefen, &#x017F;ind nichts<lb/>
in Vergleichung der Verwu&#x0364;&#x017F;tungen, &#x017F;o un&#x017F;re heutigen Kriege<lb/>
anrichten. Die Sorgfalt, womit jene von den Schrift&#x017F;tellern<lb/>
bemerkt &#x017F;ind, zeugt von ihrer Seltenheit; und die gewo&#x0364;hn-<lb/>
liche Be&#x017F;chuldigung, daß in den Zeiten des Fau&#x017F;trechts alle<lb/>
andre Rechte verletzt und verdunkelt worden, i&#x017F;t &#x017F;icher fal&#x017F;ch,<lb/>
wenig&#x017F;tens noch zur Zeit unerwie&#x017F;en, und eine Ausflucht ein-<lb/>
ander nach&#x017F;chreibender Gelehrten, welche die Privatrechte der<lb/>
damaligen Zeit nicht auf&#x017F;pu&#x0364;ren wollen. Es werden jezt in ei-<lb/>
nem Feldzuge mehrere Men&#x017F;chen unglu&#x0364;cklich gemacht, als da-<lb/>
mals in einem ganzen Jahrhundert. Die Menge der Uebel<lb/>
macht, daß der heutige Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber ihrer nicht einmal<lb/>
gedenkt; und das Kriegsrecht der jetzigen Zeit be&#x017F;tehet in dem<lb/>
Willen des &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten. Un&#x017F;re ganze Kriegesverfa&#x017F;&#x017F;ung la&#x0364;ßt<lb/>
keiner per&#x017F;o&#x0364;nlichen Tapferkeit Raum; Es &#x017F;ind ge&#x017F;chleuderte<lb/>
Maßen ohne Seele, welche das Schick&#x017F;al der Vo&#x0364;lker ent&#x017F;chei-<lb/>
den; und der unge&#x017F;chickte&#x017F;te Men&#x017F;ch, welcher nur &#x017F;eine Stelle<lb/>
wohl ausfu&#x0364;llt, hat eben den Antheil am Siege, welchen der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">edel-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0336] Der hohe Styl der Kunſt Gelehrten in Schlafmuͤtzen moͤgen ſie noch ſo ſehr verachten und verſchreyen: ſo muß doch jeder Kenner das Fauſtrecht des 12ten und 13ten Jahrhunderts als ein Kunſtwerk des hoͤchſten Styls bewundern; und unſre Nation, die anfangs keine Staͤdte duldete, und hernach das buͤrgerliche Leben mit eben dem Auge anſahe, womit wir jezt ein flaͤmiſches Stilleleben betrachten; die folglich auch keine große Werke der bildenden Kuͤnſte hervorbringen konnte, und ſolche vielleicht von ihrer Hoͤhe als kleine Fertigkeiten der Handwerker bewunderte, ſolte billig dieſe große Periode ſtudiren, und das Genie und den Geiſt kennen lernen, welcher nicht in Stein und Marmor, ſondern am Menſchen ſelbſt arbeitete, und ſo wohl ſeine Em- pfindungen als ſeine Staͤrke auf eine Art veredelte, wovon wir uns jezt kaum Begriffe machen koͤnnen. Die einzelnen Rau- bereyen, welche zufaͤlliger Weiſe dabey unterliefen, ſind nichts in Vergleichung der Verwuͤſtungen, ſo unſre heutigen Kriege anrichten. Die Sorgfalt, womit jene von den Schriftſtellern bemerkt ſind, zeugt von ihrer Seltenheit; und die gewoͤhn- liche Beſchuldigung, daß in den Zeiten des Fauſtrechts alle andre Rechte verletzt und verdunkelt worden, iſt ſicher falſch, wenigſtens noch zur Zeit unerwieſen, und eine Ausflucht ein- ander nachſchreibender Gelehrten, welche die Privatrechte der damaligen Zeit nicht aufſpuͤren wollen. Es werden jezt in ei- nem Feldzuge mehrere Menſchen ungluͤcklich gemacht, als da- mals in einem ganzen Jahrhundert. Die Menge der Uebel macht, daß der heutige Geſchichtſchreiber ihrer nicht einmal gedenkt; und das Kriegsrecht der jetzigen Zeit beſtehet in dem Willen des ſtaͤrkſten. Unſre ganze Kriegesverfaſſung laͤßt keiner perſoͤnlichen Tapferkeit Raum; Es ſind geſchleuderte Maßen ohne Seele, welche das Schickſal der Voͤlker entſchei- den; und der ungeſchickteſte Menſch, welcher nur ſeine Stelle wohl ausfuͤllt, hat eben den Antheil am Siege, welchen der edel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/336
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/336>, abgerufen am 27.04.2024.