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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Kriegskunst, namentlich durch Anwendung des Systemes der Conscription,
so ungeheure Heere ins Feld führt. Dadurch sind Staaten, welche in
früherer Zeit sogar eine beherrschende Stellung einnehmen konnten, zu
ziemlich hülfloser Abhängigkeit von den großen Mächten herabgedrückt worden.
Mit einer "Berliner Wachparade" könnte jetzt selbst ein Friedrich der Große
keinen Krieg mehr führen.
2) Ein schlagendes Beispiel sowohl der erfreulichen als der schlechten
Folgen einer für die Größe des Landes zu dünnen Bevölkerung liefern jetzt
noch, und voraussichtlich auf lange Zeit, die Vereinigten Staaten von
Nordamerika. Ihre weiten menschenleeren Räume sind allerdings das ge-
lobte Land für Solche, welche die Uebervölkerung mancher Theile Europa's
in Armuth und Aussichtslosigkeit hält, und welche, um den Preis eines
halbbarbarischen Lebens, für sich, und noch mehr für ihre nächsten Nach-
kommen, Grundeigenthum um wohlfeilen Preis und Nahrung im Ueber-
flusse erwerben wollen. Allein die Vereinigten Staaten sind auch in ihrem
Innern in geistigen, gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Beziehungen um
ganze Generationen zurück und zum Theile, eben der dünn verstreuten Be-
völkerung wegen, in den schweren Anfängen der Gesittigung befangen. Sie
haben allerdings nicht die Leiden, aber auch nicht die Vorzüge des alten
Europa. -- Ein anderes bezeichnendes Beispiel von den Nachtheilen einer
relativ kleinen Bevölkerung bietet Rußland dar, dessen Unglück und haupt-
sächlichstes Hinderniß sprüchwörtlich die "Entfernungen" sind.
3) Es ist eine der unbegreiflichsten Begriffsverwirrungen, wenn das
Dasein und selbst die Möglichkeit einer Uebervölkerung von Manchen ge-
läugnet wird. Mit den allgemeinen hohlen Sätzen, daß unter allen Um-
ständen durch Arbeit ein Werth geschaffen werden könne, daß jedes Gut
irgendwo im der Welt einen Verzehrer und also auch eine Bezahlung finden
müße, endlich daß der Arbeiter für diese Bezahlung sich Lebensbedürfnisse
verschaffen werde, es dann aber ganz gleichgültig sei, in welchem Lande
diese ursprünglich erzeugt worden, ist offenbar gar nichts gesagt. Um Arbeits-
erzeugnisse verkaufen zu können, muß ein Käufer vorhanden sein; um
Lebensbedürfnisse einzukaufen, muß ein erreichbarer Verkäufer gefunden
werden. Nichts ist aber ungewisser, als ob beides der Fall ist, wenn im
Lande selbst die Arbeit keine Verwendung findet und die Lebensmittel nicht
verkäuflich sind. Es kann dies sein; und wenn es sicher und nachhaltig so
ist, so besteht allerdings keine Uebervölkerung. Es kann aber auch nicht so
sein, oder wenigstens nicht immer und mit Sicherheit; dann aber ist Ueber-
völkerung vorhanden, weil das eigene Land der Arbeit nicht bedarf und für
den Arbeiter keine Lebensbedürfnisse hat. -- Zum Beweise dienen doch gewiß
manche Striche Deutschlands, der Schweiz, Irlands u. s. w., wo, aller-
dings aus verschiedenen Ursachen allein eben thatsächlich, mehr Angebot von
Kriegskunſt, namentlich durch Anwendung des Syſtemes der Conſcription,
ſo ungeheure Heere ins Feld führt. Dadurch ſind Staaten, welche in
früherer Zeit ſogar eine beherrſchende Stellung einnehmen konnten, zu
ziemlich hülfloſer Abhängigkeit von den großen Mächten herabgedrückt worden.
Mit einer „Berliner Wachparade“ könnte jetzt ſelbſt ein Friedrich der Große
keinen Krieg mehr führen.
2) Ein ſchlagendes Beiſpiel ſowohl der erfreulichen als der ſchlechten
Folgen einer für die Größe des Landes zu dünnen Bevölkerung liefern jetzt
noch, und vorausſichtlich auf lange Zeit, die Vereinigten Staaten von
Nordamerika. Ihre weiten menſchenleeren Räume ſind allerdings das ge-
lobte Land für Solche, welche die Uebervölkerung mancher Theile Europa’s
in Armuth und Ausſichtsloſigkeit hält, und welche, um den Preis eines
halbbarbariſchen Lebens, für ſich, und noch mehr für ihre nächſten Nach-
kommen, Grundeigenthum um wohlfeilen Preis und Nahrung im Ueber-
fluſſe erwerben wollen. Allein die Vereinigten Staaten ſind auch in ihrem
Innern in geiſtigen, geſellſchaftlichen und wirthſchaftlichen Beziehungen um
ganze Generationen zurück und zum Theile, eben der dünn verſtreuten Be-
völkerung wegen, in den ſchweren Anfängen der Geſittigung befangen. Sie
haben allerdings nicht die Leiden, aber auch nicht die Vorzüge des alten
Europa. — Ein anderes bezeichnendes Beiſpiel von den Nachtheilen einer
relativ kleinen Bevölkerung bietet Rußland dar, deſſen Unglück und haupt-
ſächlichſtes Hinderniß ſprüchwörtlich die „Entfernungen“ ſind.
3) Es iſt eine der unbegreiflichſten Begriffsverwirrungen, wenn das
Daſein und ſelbſt die Möglichkeit einer Uebervölkerung von Manchen ge-
läugnet wird. Mit den allgemeinen hohlen Sätzen, daß unter allen Um-
ſtänden durch Arbeit ein Werth geſchaffen werden könne, daß jedes Gut
irgendwo im der Welt einen Verzehrer und alſo auch eine Bezahlung finden
müße, endlich daß der Arbeiter für dieſe Bezahlung ſich Lebensbedürfniſſe
verſchaffen werde, es dann aber ganz gleichgültig ſei, in welchem Lande
dieſe urſprünglich erzeugt worden, iſt offenbar gar nichts geſagt. Um Arbeits-
erzeugniſſe verkaufen zu können, muß ein Käufer vorhanden ſein; um
Lebensbedürfniſſe einzukaufen, muß ein erreichbarer Verkäufer gefunden
werden. Nichts iſt aber ungewiſſer, als ob beides der Fall iſt, wenn im
Lande ſelbſt die Arbeit keine Verwendung findet und die Lebensmittel nicht
verkäuflich ſind. Es kann dies ſein; und wenn es ſicher und nachhaltig ſo
iſt, ſo beſteht allerdings keine Uebervölkerung. Es kann aber auch nicht ſo
ſein, oder wenigſtens nicht immer und mit Sicherheit; dann aber iſt Ueber-
völkerung vorhanden, weil das eigene Land der Arbeit nicht bedarf und für
den Arbeiter keine Lebensbedürfniſſe hat. — Zum Beweiſe dienen doch gewiß
manche Striche Deutſchlands, der Schweiz, Irlands u. ſ. w., wo, aller-
dings aus verſchiedenen Urſachen allein eben thatſächlich, mehr Angebot von
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[581/0595] ¹⁾ Kriegskunſt, namentlich durch Anwendung des Syſtemes der Conſcription, ſo ungeheure Heere ins Feld führt. Dadurch ſind Staaten, welche in früherer Zeit ſogar eine beherrſchende Stellung einnehmen konnten, zu ziemlich hülfloſer Abhängigkeit von den großen Mächten herabgedrückt worden. Mit einer „Berliner Wachparade“ könnte jetzt ſelbſt ein Friedrich der Große keinen Krieg mehr führen. ²⁾ Ein ſchlagendes Beiſpiel ſowohl der erfreulichen als der ſchlechten Folgen einer für die Größe des Landes zu dünnen Bevölkerung liefern jetzt noch, und vorausſichtlich auf lange Zeit, die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ihre weiten menſchenleeren Räume ſind allerdings das ge- lobte Land für Solche, welche die Uebervölkerung mancher Theile Europa’s in Armuth und Ausſichtsloſigkeit hält, und welche, um den Preis eines halbbarbariſchen Lebens, für ſich, und noch mehr für ihre nächſten Nach- kommen, Grundeigenthum um wohlfeilen Preis und Nahrung im Ueber- fluſſe erwerben wollen. Allein die Vereinigten Staaten ſind auch in ihrem Innern in geiſtigen, geſellſchaftlichen und wirthſchaftlichen Beziehungen um ganze Generationen zurück und zum Theile, eben der dünn verſtreuten Be- völkerung wegen, in den ſchweren Anfängen der Geſittigung befangen. Sie haben allerdings nicht die Leiden, aber auch nicht die Vorzüge des alten Europa. — Ein anderes bezeichnendes Beiſpiel von den Nachtheilen einer relativ kleinen Bevölkerung bietet Rußland dar, deſſen Unglück und haupt- ſächlichſtes Hinderniß ſprüchwörtlich die „Entfernungen“ ſind. ³⁾ Es iſt eine der unbegreiflichſten Begriffsverwirrungen, wenn das Daſein und ſelbſt die Möglichkeit einer Uebervölkerung von Manchen ge- läugnet wird. Mit den allgemeinen hohlen Sätzen, daß unter allen Um- ſtänden durch Arbeit ein Werth geſchaffen werden könne, daß jedes Gut irgendwo im der Welt einen Verzehrer und alſo auch eine Bezahlung finden müße, endlich daß der Arbeiter für dieſe Bezahlung ſich Lebensbedürfniſſe verſchaffen werde, es dann aber ganz gleichgültig ſei, in welchem Lande dieſe urſprünglich erzeugt worden, iſt offenbar gar nichts geſagt. Um Arbeits- erzeugniſſe verkaufen zu können, muß ein Käufer vorhanden ſein; um Lebensbedürfniſſe einzukaufen, muß ein erreichbarer Verkäufer gefunden werden. Nichts iſt aber ungewiſſer, als ob beides der Fall iſt, wenn im Lande ſelbſt die Arbeit keine Verwendung findet und die Lebensmittel nicht verkäuflich ſind. Es kann dies ſein; und wenn es ſicher und nachhaltig ſo iſt, ſo beſteht allerdings keine Uebervölkerung. Es kann aber auch nicht ſo ſein, oder wenigſtens nicht immer und mit Sicherheit; dann aber iſt Ueber- völkerung vorhanden, weil das eigene Land der Arbeit nicht bedarf und für den Arbeiter keine Lebensbedürfniſſe hat. — Zum Beweiſe dienen doch gewiß manche Striche Deutſchlands, der Schweiz, Irlands u. ſ. w., wo, aller- dings aus verſchiedenen Urſachen allein eben thatſächlich, mehr Angebot von

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/595>, abgerufen am 30.04.2024.