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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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schaft läuft auch überdies noch Gefahr, sachlich unrichtige
Grundsätze aufzustellen. Leicht nämlich geht eine rein theore-
tische Lehre von einem höhern Grundsatze aus, welcher nicht
ganz richtig ist; oder aber sie begeht einen Fehler in einer
Schlußfolgerung. In beiden Fällen kommt sie nothwendig zu
falschen Sätzen; und wenn denn auch die Entdeckung derselben
und der Nachweis ihrer Unrichtigkeit durch rein theoretisches
Verfahren nicht unmöglich ist, so ist doch die Auffindung auf
diesem Wege weder leicht noch sicher, und es ist namentlich
der Beweis der Unrichtigkeit auch eben ein theoretischer, somit
selbst wieder möglichen Fehlern derselben Art unterworfen.
Von höchster Bedeutung ist daher eine Probe der Richtigkeit
durch geschichtliche Thatsachen. Diese weisen auf unbestreitbare
Art nach, ob die allgemeinen Voraussetzungen, von welchen
die Lehre ausgeht, auch der Wirklichkeit entsprechen, oder ob
die Menschen und Dinge thatsächlich anders sind, als sie von
der Wissenschaft angenommen wurden; und sie zeigen, welche
Folgen die Anwendung eines bestimmten Satzes, sei es über-
haupt, sei es unter gewissen Voraussetzungen, in der That hat.
Wenn nun das Ergebniß, wie häufig genug der Fall sein
wird, ein anderes ist, als nach den Sätzen der Lehre zu er-
warten gewesen wäre, so entsteht eine nicht abzuweisende For-
derung, die Gründe dieser Verschiedenheit aufzusuchen, dadurch
aber zur Einsicht der Wahrheit zu gelangen und die Theorie
zu verbessern. Die theoretischen Staatslehren leiden gar sehr
unter der Unmöglichkeit, die auf wissenschaftlichem Wege gefun-
denen Sätze durch ausdrücklich angestellte Versuche im Leben
zu erproben, indem in den allerseltensten Fällen ein Theore-
tiker in der Lage ist, die von ihm aufgefundenen und für wahr
erachteten Principien auch unmittelbar an einem wirklichen
Staate zu erproben. Der einzig mögliche Ersatz für diesen in
der Natur der Sache liegenden Mangel ist die Aufsuchung von

ſchaft läuft auch überdies noch Gefahr, ſachlich unrichtige
Grundſätze aufzuſtellen. Leicht nämlich geht eine rein theore-
tiſche Lehre von einem höhern Grundſatze aus, welcher nicht
ganz richtig iſt; oder aber ſie begeht einen Fehler in einer
Schlußfolgerung. In beiden Fällen kommt ſie nothwendig zu
falſchen Sätzen; und wenn denn auch die Entdeckung derſelben
und der Nachweis ihrer Unrichtigkeit durch rein theoretiſches
Verfahren nicht unmöglich iſt, ſo iſt doch die Auffindung auf
dieſem Wege weder leicht noch ſicher, und es iſt namentlich
der Beweis der Unrichtigkeit auch eben ein theoretiſcher, ſomit
ſelbſt wieder möglichen Fehlern derſelben Art unterworfen.
Von höchſter Bedeutung iſt daher eine Probe der Richtigkeit
durch geſchichtliche Thatſachen. Dieſe weiſen auf unbeſtreitbare
Art nach, ob die allgemeinen Vorausſetzungen, von welchen
die Lehre ausgeht, auch der Wirklichkeit entſprechen, oder ob
die Menſchen und Dinge thatſächlich anders ſind, als ſie von
der Wiſſenſchaft angenommen wurden; und ſie zeigen, welche
Folgen die Anwendung eines beſtimmten Satzes, ſei es über-
haupt, ſei es unter gewiſſen Vorausſetzungen, in der That hat.
Wenn nun das Ergebniß, wie häufig genug der Fall ſein
wird, ein anderes iſt, als nach den Sätzen der Lehre zu er-
warten geweſen wäre, ſo entſteht eine nicht abzuweiſende For-
derung, die Gründe dieſer Verſchiedenheit aufzuſuchen, dadurch
aber zur Einſicht der Wahrheit zu gelangen und die Theorie
zu verbeſſern. Die theoretiſchen Staatslehren leiden gar ſehr
unter der Unmöglichkeit, die auf wiſſenſchaftlichem Wege gefun-
denen Sätze durch ausdrücklich angeſtellte Verſuche im Leben
zu erproben, indem in den allerſeltenſten Fällen ein Theore-
tiker in der Lage iſt, die von ihm aufgefundenen und für wahr
erachteten Principien auch unmittelbar an einem wirklichen
Staate zu erproben. Der einzig mögliche Erſatz für dieſen in
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[713/0727] ſchaft läuft auch überdies noch Gefahr, ſachlich unrichtige Grundſätze aufzuſtellen. Leicht nämlich geht eine rein theore- tiſche Lehre von einem höhern Grundſatze aus, welcher nicht ganz richtig iſt; oder aber ſie begeht einen Fehler in einer Schlußfolgerung. In beiden Fällen kommt ſie nothwendig zu falſchen Sätzen; und wenn denn auch die Entdeckung derſelben und der Nachweis ihrer Unrichtigkeit durch rein theoretiſches Verfahren nicht unmöglich iſt, ſo iſt doch die Auffindung auf dieſem Wege weder leicht noch ſicher, und es iſt namentlich der Beweis der Unrichtigkeit auch eben ein theoretiſcher, ſomit ſelbſt wieder möglichen Fehlern derſelben Art unterworfen. Von höchſter Bedeutung iſt daher eine Probe der Richtigkeit durch geſchichtliche Thatſachen. Dieſe weiſen auf unbeſtreitbare Art nach, ob die allgemeinen Vorausſetzungen, von welchen die Lehre ausgeht, auch der Wirklichkeit entſprechen, oder ob die Menſchen und Dinge thatſächlich anders ſind, als ſie von der Wiſſenſchaft angenommen wurden; und ſie zeigen, welche Folgen die Anwendung eines beſtimmten Satzes, ſei es über- haupt, ſei es unter gewiſſen Vorausſetzungen, in der That hat. Wenn nun das Ergebniß, wie häufig genug der Fall ſein wird, ein anderes iſt, als nach den Sätzen der Lehre zu er- warten geweſen wäre, ſo entſteht eine nicht abzuweiſende For- derung, die Gründe dieſer Verſchiedenheit aufzuſuchen, dadurch aber zur Einſicht der Wahrheit zu gelangen und die Theorie zu verbeſſern. Die theoretiſchen Staatslehren leiden gar ſehr unter der Unmöglichkeit, die auf wiſſenſchaftlichem Wege gefun- denen Sätze durch ausdrücklich angeſtellte Verſuche im Leben zu erproben, indem in den allerſeltenſten Fällen ein Theore- tiker in der Lage iſt, die von ihm aufgefundenen und für wahr erachteten Principien auch unmittelbar an einem wirklichen Staate zu erproben. Der einzig mögliche Erſatz für dieſen in der Natur der Sache liegenden Mangel iſt die Aufſuchung von

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 713. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/727>, abgerufen am 29.04.2024.