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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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solchen Thatsachen in Vergangenheit oder Gegenwart, welche
die Folgen der Anwendung des in Frage stehenden Satzes
oder wenigstens eines sehr ähnlichen zu sein scheinen. In Er-
mangelung eigener Versuche mag der politische Theoretiker auf
diese Weise wenigstens die von Anderen unwillkürlich angestell-
ten Experimente kennen und benützen 2).

Endlich bedarf aber auch der praktische Staatsmann
einer Kenntniß der geschichtlichen Staatswissenschaften. Sie
liefern ihm das, was er vor Allem bedarf, nämlich Erfahrung;
und sie lehren ihn den Schauplatz kennen, auf welchem er zu
handeln hat, so wie die Elemente der Kraft und des Wider-
standes, welche er benützen oder berechnen muß. Mag es
immerhin richtig sein, daß die durch das eigene Handeln ge-
machte Erfahrung einen klareren und wirksameren Eindruck
macht, als die von Anderen und an fremden Verhältnissen
gemachten Erlebnisse dieses zu thun vermögen; und gibt es
unzweifelhaft eine unmittelbarere und lebendigere Anschauung,
wenn staatliche Zustände durch eigene Beobachtung und durch
ein in Mitte derselben zugebrachtes Leben erkannt worden sind:
so liegt es nun einmal in der Natur der Sache, daß selbst
der am günstigsten Gestellte nicht so Vieles und so Verschieden-
artiges selbst erleben und nicht so weit und breit genaue per-
sönliche Untersuchungen anstellen kann, als eine vollendete
staatsmännische Ausbildung erfordert. Offenbar liegt also die
Alternative nur so, daß sich entweder der Staatsmann hin-
sichtlich der staatlichen Erfahrungen und Anschauungen theilweise
mit fremden Erlebnissen und Beobachtungen begnügen muß,
oder daß er ganz leer bleibt. Hier kann denn aber kein Zweifel
über das Bessere sein. Wenn aber nicht selten, und zwar mit
Recht, die Klage gehört wird, daß die Geschichte so wenig zur
Belehrung und Warnung diene, so liegt die Schuld nicht an
der Unbrauchbarkeit der Erfahrung und Erzählungen Anderer,

ſolchen Thatſachen in Vergangenheit oder Gegenwart, welche
die Folgen der Anwendung des in Frage ſtehenden Satzes
oder wenigſtens eines ſehr ähnlichen zu ſein ſcheinen. In Er-
mangelung eigener Verſuche mag der politiſche Theoretiker auf
dieſe Weiſe wenigſtens die von Anderen unwillkürlich angeſtell-
ten Experimente kennen und benützen 2).

Endlich bedarf aber auch der praktiſche Staatsmann
einer Kenntniß der geſchichtlichen Staatswiſſenſchaften. Sie
liefern ihm das, was er vor Allem bedarf, nämlich Erfahrung;
und ſie lehren ihn den Schauplatz kennen, auf welchem er zu
handeln hat, ſo wie die Elemente der Kraft und des Wider-
ſtandes, welche er benützen oder berechnen muß. Mag es
immerhin richtig ſein, daß die durch das eigene Handeln ge-
machte Erfahrung einen klareren und wirkſameren Eindruck
macht, als die von Anderen und an fremden Verhältniſſen
gemachten Erlebniſſe dieſes zu thun vermögen; und gibt es
unzweifelhaft eine unmittelbarere und lebendigere Anſchauung,
wenn ſtaatliche Zuſtände durch eigene Beobachtung und durch
ein in Mitte derſelben zugebrachtes Leben erkannt worden ſind:
ſo liegt es nun einmal in der Natur der Sache, daß ſelbſt
der am günſtigſten Geſtellte nicht ſo Vieles und ſo Verſchieden-
artiges ſelbſt erleben und nicht ſo weit und breit genaue per-
ſönliche Unterſuchungen anſtellen kann, als eine vollendete
ſtaatsmänniſche Ausbildung erfordert. Offenbar liegt alſo die
Alternative nur ſo, daß ſich entweder der Staatsmann hin-
ſichtlich der ſtaatlichen Erfahrungen und Anſchauungen theilweiſe
mit fremden Erlebniſſen und Beobachtungen begnügen muß,
oder daß er ganz leer bleibt. Hier kann denn aber kein Zweifel
über das Beſſere ſein. Wenn aber nicht ſelten, und zwar mit
Recht, die Klage gehört wird, daß die Geſchichte ſo wenig zur
Belehrung und Warnung diene, ſo liegt die Schuld nicht an
der Unbrauchbarkeit der Erfahrung und Erzählungen Anderer,

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[714/0728] ſolchen Thatſachen in Vergangenheit oder Gegenwart, welche die Folgen der Anwendung des in Frage ſtehenden Satzes oder wenigſtens eines ſehr ähnlichen zu ſein ſcheinen. In Er- mangelung eigener Verſuche mag der politiſche Theoretiker auf dieſe Weiſe wenigſtens die von Anderen unwillkürlich angeſtell- ten Experimente kennen und benützen 2). Endlich bedarf aber auch der praktiſche Staatsmann einer Kenntniß der geſchichtlichen Staatswiſſenſchaften. Sie liefern ihm das, was er vor Allem bedarf, nämlich Erfahrung; und ſie lehren ihn den Schauplatz kennen, auf welchem er zu handeln hat, ſo wie die Elemente der Kraft und des Wider- ſtandes, welche er benützen oder berechnen muß. Mag es immerhin richtig ſein, daß die durch das eigene Handeln ge- machte Erfahrung einen klareren und wirkſameren Eindruck macht, als die von Anderen und an fremden Verhältniſſen gemachten Erlebniſſe dieſes zu thun vermögen; und gibt es unzweifelhaft eine unmittelbarere und lebendigere Anſchauung, wenn ſtaatliche Zuſtände durch eigene Beobachtung und durch ein in Mitte derſelben zugebrachtes Leben erkannt worden ſind: ſo liegt es nun einmal in der Natur der Sache, daß ſelbſt der am günſtigſten Geſtellte nicht ſo Vieles und ſo Verſchieden- artiges ſelbſt erleben und nicht ſo weit und breit genaue per- ſönliche Unterſuchungen anſtellen kann, als eine vollendete ſtaatsmänniſche Ausbildung erfordert. Offenbar liegt alſo die Alternative nur ſo, daß ſich entweder der Staatsmann hin- ſichtlich der ſtaatlichen Erfahrungen und Anſchauungen theilweiſe mit fremden Erlebniſſen und Beobachtungen begnügen muß, oder daß er ganz leer bleibt. Hier kann denn aber kein Zweifel über das Beſſere ſein. Wenn aber nicht ſelten, und zwar mit Recht, die Klage gehört wird, daß die Geſchichte ſo wenig zur Belehrung und Warnung diene, ſo liegt die Schuld nicht an der Unbrauchbarkeit der Erfahrung und Erzählungen Anderer,

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/728>, abgerufen am 16.05.2024.