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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Ereignisse Jahr für Jahr, sondern die Geschichte in grösseren
Abschnitten -- zuerst im ersten Buch die Sage von Roms
Gründung, der Königszeit und der Vertreibung der Tarquinier;
alsdann im zweiten und dritten die ähnlichen Sagen von dem
Ursprung der übrigen italischen Gemeinden und deren Eintritt
in die römische Eidgenossenschaft, hierauf im vierten und fünf-
ten die Kriege vom ersten punischen bis auf den Krieg mit
Antiochos, endlich in den letzten beiden Büchern die Ereig-
nisse der letzten zwanzig Lebensjahre des Verfassers. Es ist
charakteristisch, dass die Epoche von der Vertreibung der
Könige bis auf den ersten punischen Krieg gewissermassen
fehlt; offenbar weil wohl die Sage und die Geschichte, nicht
aber die zwischen beiden in der Mitte liegende Zeit eine zu-
sammenhängende Erzählung gestattete. Ebenso charakteri-
stisch ist die sonst unerhörte ausführliche Berücksichtigung
der übrigen italischen Gemeinden; man sieht, dass die Oppo-
sition gegen das hauptstädtische Treiben auf die Landschaft
sich stützte. Die letzten Bücher müssen anders und ausführ-
licher die Ereignisse geschildert haben; zu ihnen eine Art
Ergänzung bildeten die Staatsreden, die Cato gleichfalls, zuerst
unter den Römern, aufzuzeichnen anfing -- es waren gewisser-
massen politische Memoiren, Nachträge zu seinem Hauptwerk,
in das er auch mehrere der Reden einrückte. In der Rede-
schriftstellerei fand er zahlreiche Nachfolger; das originelle
Buch der ,Anfänge' hat seinen Platz in der römischen Litte-
ratur behauptet, aber eine Schule nicht begründet -- der
römische Thukydides blieb aus. Aber dass, während Poesie
und bildende Kunst dem Handwerk gleich geachtet wurden,
die Beschäftigung mit den Nützlichkeitswissenschaften und
mit der Geschichte auch den Staatsmann ehre, war ein Grund-
satz, den zuerst Cato entschieden auf- und für längere Zeit
bei seiner Nation feststellte.

Dieselben Parteien, die in Kunst und Wissenschaft sich
befehdeten, standen sich auch gegenüber in den Fragen der
religiösen, politischen und sittlichen Zucht. Man stand eben
an der Grenze zweier Epochen und auf jedem Gebiet des
menschlichen Thuns und Sinnens rangen der italische Bauer
und der weltbürgerliche Grossstädter. Der Einfluss der helle-
nischen Civilisation des siebenten Jahrhunderts mit ihrer bei-
spiellosen Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit ist eben in dem
Religionswesen sehr sichtbar und sehr nachtheilig. Der alte
einfache Glaube der Italiker war wie es fiel die Bewunderung

VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Ereignisse Jahr für Jahr, sondern die Geschichte in gröſseren
Abschnitten — zuerst im ersten Buch die Sage von Roms
Gründung, der Königszeit und der Vertreibung der Tarquinier;
alsdann im zweiten und dritten die ähnlichen Sagen von dem
Ursprung der übrigen italischen Gemeinden und deren Eintritt
in die römische Eidgenossenschaft, hierauf im vierten und fünf-
ten die Kriege vom ersten punischen bis auf den Krieg mit
Antiochos, endlich in den letzten beiden Büchern die Ereig-
nisse der letzten zwanzig Lebensjahre des Verfassers. Es ist
charakteristisch, daſs die Epoche von der Vertreibung der
Könige bis auf den ersten punischen Krieg gewissermaſsen
fehlt; offenbar weil wohl die Sage und die Geschichte, nicht
aber die zwischen beiden in der Mitte liegende Zeit eine zu-
sammenhängende Erzählung gestattete. Ebenso charakteri-
stisch ist die sonst unerhörte ausführliche Berücksichtigung
der übrigen italischen Gemeinden; man sieht, daſs die Oppo-
sition gegen das hauptstädtische Treiben auf die Landschaft
sich stützte. Die letzten Bücher müssen anders und ausführ-
licher die Ereignisse geschildert haben; zu ihnen eine Art
Ergänzung bildeten die Staatsreden, die Cato gleichfalls, zuerst
unter den Römern, aufzuzeichnen anfing — es waren gewisser-
maſsen politische Memoiren, Nachträge zu seinem Hauptwerk,
in das er auch mehrere der Reden einrückte. In der Rede-
schriftstellerei fand er zahlreiche Nachfolger; das originelle
Buch der ‚Anfänge‘ hat seinen Platz in der römischen Litte-
ratur behauptet, aber eine Schule nicht begründet — der
römische Thukydides blieb aus. Aber daſs, während Poesie
und bildende Kunst dem Handwerk gleich geachtet wurden,
die Beschäftigung mit den Nützlichkeitswissenschaften und
mit der Geschichte auch den Staatsmann ehre, war ein Grund-
satz, den zuerst Cato entschieden auf- und für längere Zeit
bei seiner Nation feststellte.

Dieselben Parteien, die in Kunst und Wissenschaft sich
befehdeten, standen sich auch gegenüber in den Fragen der
religiösen, politischen und sittlichen Zucht. Man stand eben
an der Grenze zweier Epochen und auf jedem Gebiet des
menschlichen Thuns und Sinnens rangen der italische Bauer
und der weltbürgerliche Groſsstädter. Der Einfluſs der helle-
nischen Civilisation des siebenten Jahrhunderts mit ihrer bei-
spiellosen Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit ist eben in dem
Religionswesen sehr sichtbar und sehr nachtheilig. Der alte
einfache Glaube der Italiker war wie es fiel die Bewunderung

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[637/0651] VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE. Ereignisse Jahr für Jahr, sondern die Geschichte in gröſseren Abschnitten — zuerst im ersten Buch die Sage von Roms Gründung, der Königszeit und der Vertreibung der Tarquinier; alsdann im zweiten und dritten die ähnlichen Sagen von dem Ursprung der übrigen italischen Gemeinden und deren Eintritt in die römische Eidgenossenschaft, hierauf im vierten und fünf- ten die Kriege vom ersten punischen bis auf den Krieg mit Antiochos, endlich in den letzten beiden Büchern die Ereig- nisse der letzten zwanzig Lebensjahre des Verfassers. Es ist charakteristisch, daſs die Epoche von der Vertreibung der Könige bis auf den ersten punischen Krieg gewissermaſsen fehlt; offenbar weil wohl die Sage und die Geschichte, nicht aber die zwischen beiden in der Mitte liegende Zeit eine zu- sammenhängende Erzählung gestattete. Ebenso charakteri- stisch ist die sonst unerhörte ausführliche Berücksichtigung der übrigen italischen Gemeinden; man sieht, daſs die Oppo- sition gegen das hauptstädtische Treiben auf die Landschaft sich stützte. Die letzten Bücher müssen anders und ausführ- licher die Ereignisse geschildert haben; zu ihnen eine Art Ergänzung bildeten die Staatsreden, die Cato gleichfalls, zuerst unter den Römern, aufzuzeichnen anfing — es waren gewisser- maſsen politische Memoiren, Nachträge zu seinem Hauptwerk, in das er auch mehrere der Reden einrückte. In der Rede- schriftstellerei fand er zahlreiche Nachfolger; das originelle Buch der ‚Anfänge‘ hat seinen Platz in der römischen Litte- ratur behauptet, aber eine Schule nicht begründet — der römische Thukydides blieb aus. Aber daſs, während Poesie und bildende Kunst dem Handwerk gleich geachtet wurden, die Beschäftigung mit den Nützlichkeitswissenschaften und mit der Geschichte auch den Staatsmann ehre, war ein Grund- satz, den zuerst Cato entschieden auf- und für längere Zeit bei seiner Nation feststellte. Dieselben Parteien, die in Kunst und Wissenschaft sich befehdeten, standen sich auch gegenüber in den Fragen der religiösen, politischen und sittlichen Zucht. Man stand eben an der Grenze zweier Epochen und auf jedem Gebiet des menschlichen Thuns und Sinnens rangen der italische Bauer und der weltbürgerliche Groſsstädter. Der Einfluſs der helle- nischen Civilisation des siebenten Jahrhunderts mit ihrer bei- spiellosen Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit ist eben in dem Religionswesen sehr sichtbar und sehr nachtheilig. Der alte einfache Glaube der Italiker war wie es fiel die Bewunderung

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/651>, abgerufen am 30.04.2024.