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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL IX.
Archäologen vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder
wissbar noch wissenswerth ist, ,nach der Mutter der Hekabe',
wie Kaiser Tiberius meinte. Da die ältesten und bedeutend-
sten etruskischen Städte tief im Binnenlande liegen, ja un-
mittelbar am Meer keine einzige namhafte Stadt ausser Popu-
lonia, von der wir aber eben sicher wissen, dass sie zu den
alten Zwölfstädten nicht gehörte; da ferner in geschichtlicher
Zeit die Etrusker von Norden nach Süden sich bewegen, so
sind sie wahrscheinlich zu Lande von Norden oder Westen
her in die Halbinsel eingewandert; wie denn auch die niedere
Culturstufe, auf der wir sie zuerst finden, mit einer Einwan-
derung über das Meer sich schlecht vertragen würde. Eine
Meerenge überschritten schon in frühester Zeit die Völker
gleich einem Strom; aber eine Landung an der italischen
Westküste setzt ganz andere Bedingungen voraus. -- Mit
dieser einfachen und naturgemässen Auffassung aber in grellen
Widerspruch tritt eine sehr alte schon bei Herodotos vorkom-
mende Erzählung, dass die Etrusker aus Asien ausgewanderte
Lyder seien, die in zahllosen Wandelungen und Steigerungen
bei den Späteren wiederkehrt, wenn gleich verständige For-
scher, wie zum Beispiel Dionysios, sich nachdrücklich dagegen
erklärten und darauf hinwiesen, dass in Religion, Gesetz, Sitte
und Sprache zwischen Lydern und Etruskern auch nicht die
mindeste Aehnlichkeit sich vorfinde. Es ist möglich, dass ein
vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm nach Etrurien ge-
langt ist und an dessen Abenteuer diese Mährchen anknüpfen;
wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzählung auf einem
blossen Quiproquo. Die italischen Etrusker hiessen theils nach
ihrem Archegeten Ras-ennae mit der oben erwähnten gentili-
cischen Endung, mit welchem Namen die Raet-i allerdings
zusammenhängen könnten; theils und gewöhnlicher Turs-
ennae
, denn diese Form scheint der griechischen Turs-enoi,
Trruenoi, der umbrischen Turs-ci, der römischen Tusci
Etrusci
zu Grunde zu liegen. Die zufällige Namensähnlich-
keit dieser Tursenner und des lydischen Volkes der Torr-
eboi oder auch wohl Turr-enoi, so genannt von der Stadt
Turra, scheint in der That die einzige Grundlage jener durch ihr
hohes Alter nicht besser gewordenen Hypothese und des gan-
zen babylonischen Thurmes darauf aufgeführter Geschichtsklit-
terungen zu sein. Indem man mit dem lydischen Piraten-
wesen den alten etruskischen Seeverkehr verknüpfte und
endlich noch -- zuerst nachweislich thut es Thukydides --

ERSTES BUCH. KAPITEL IX.
Archäologen vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder
wiſsbar noch wissenswerth ist, ‚nach der Mutter der Hekabe‘,
wie Kaiser Tiberius meinte. Da die ältesten und bedeutend-
sten etruskischen Städte tief im Binnenlande liegen, ja un-
mittelbar am Meer keine einzige namhafte Stadt auſser Popu-
lonia, von der wir aber eben sicher wissen, daſs sie zu den
alten Zwölfstädten nicht gehörte; da ferner in geschichtlicher
Zeit die Etrusker von Norden nach Süden sich bewegen, so
sind sie wahrscheinlich zu Lande von Norden oder Westen
her in die Halbinsel eingewandert; wie denn auch die niedere
Culturstufe, auf der wir sie zuerst finden, mit einer Einwan-
derung über das Meer sich schlecht vertragen würde. Eine
Meerenge überschritten schon in frühester Zeit die Völker
gleich einem Strom; aber eine Landung an der italischen
Westküste setzt ganz andere Bedingungen voraus. — Mit
dieser einfachen und naturgemäſsen Auffassung aber in grellen
Widerspruch tritt eine sehr alte schon bei Herodotos vorkom-
mende Erzählung, daſs die Etrusker aus Asien ausgewanderte
Lyder seien, die in zahllosen Wandelungen und Steigerungen
bei den Späteren wiederkehrt, wenn gleich verständige For-
scher, wie zum Beispiel Dionysios, sich nachdrücklich dagegen
erklärten und darauf hinwiesen, daſs in Religion, Gesetz, Sitte
und Sprache zwischen Lydern und Etruskern auch nicht die
mindeste Aehnlichkeit sich vorfinde. Es ist möglich, daſs ein
vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm nach Etrurien ge-
langt ist und an dessen Abenteuer diese Mährchen anknüpfen;
wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzählung auf einem
bloſsen Quiproquo. Die italischen Etrusker hieſsen theils nach
ihrem Archegeten Ras-ennae mit der oben erwähnten gentili-
cischen Endung, mit welchem Namen die Raet-i allerdings
zusammenhängen könnten; theils und gewöhnlicher Turs-
ennae
, denn diese Form scheint der griechischen Τυϱσ-ηνοί,
Τϱ̓ϱ̔υηνοί, der umbrischen Turs-ci, der römischen Tusci
Etrusci
zu Grunde zu liegen. Die zufällige Namensähnlich-
keit dieser Tursenner und des lydischen Volkes der Τοϱ̓ϱ̔-
ηβοί oder auch wohl Τυϱ̓ϱ̔-ηνοί, so genannt von der Stadt
Τύϱ̓ϱ̔α, scheint in der That die einzige Grundlage jener durch ihr
hohes Alter nicht besser gewordenen Hypothese und des gan-
zen babylonischen Thurmes darauf aufgeführter Geschichtsklit-
terungen zu sein. Indem man mit dem lydischen Piraten-
wesen den alten etruskischen Seeverkehr verknüpfte und
endlich noch — zuerst nachweislich thut es Thukydides —

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[82/0096] ERSTES BUCH. KAPITEL IX. Archäologen vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder wiſsbar noch wissenswerth ist, ‚nach der Mutter der Hekabe‘, wie Kaiser Tiberius meinte. Da die ältesten und bedeutend- sten etruskischen Städte tief im Binnenlande liegen, ja un- mittelbar am Meer keine einzige namhafte Stadt auſser Popu- lonia, von der wir aber eben sicher wissen, daſs sie zu den alten Zwölfstädten nicht gehörte; da ferner in geschichtlicher Zeit die Etrusker von Norden nach Süden sich bewegen, so sind sie wahrscheinlich zu Lande von Norden oder Westen her in die Halbinsel eingewandert; wie denn auch die niedere Culturstufe, auf der wir sie zuerst finden, mit einer Einwan- derung über das Meer sich schlecht vertragen würde. Eine Meerenge überschritten schon in frühester Zeit die Völker gleich einem Strom; aber eine Landung an der italischen Westküste setzt ganz andere Bedingungen voraus. — Mit dieser einfachen und naturgemäſsen Auffassung aber in grellen Widerspruch tritt eine sehr alte schon bei Herodotos vorkom- mende Erzählung, daſs die Etrusker aus Asien ausgewanderte Lyder seien, die in zahllosen Wandelungen und Steigerungen bei den Späteren wiederkehrt, wenn gleich verständige For- scher, wie zum Beispiel Dionysios, sich nachdrücklich dagegen erklärten und darauf hinwiesen, daſs in Religion, Gesetz, Sitte und Sprache zwischen Lydern und Etruskern auch nicht die mindeste Aehnlichkeit sich vorfinde. Es ist möglich, daſs ein vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm nach Etrurien ge- langt ist und an dessen Abenteuer diese Mährchen anknüpfen; wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzählung auf einem bloſsen Quiproquo. Die italischen Etrusker hieſsen theils nach ihrem Archegeten Ras-ennae mit der oben erwähnten gentili- cischen Endung, mit welchem Namen die Raet-i allerdings zusammenhängen könnten; theils und gewöhnlicher Turs- ennae, denn diese Form scheint der griechischen Τυϱσ-ηνοί, Τϱ̓ϱ̔υηνοί, der umbrischen Turs-ci, der römischen Tusci Etrusci zu Grunde zu liegen. Die zufällige Namensähnlich- keit dieser Tursenner und des lydischen Volkes der Τοϱ̓ϱ̔- ηβοί oder auch wohl Τυϱ̓ϱ̔-ηνοί, so genannt von der Stadt Τύϱ̓ϱ̔α, scheint in der That die einzige Grundlage jener durch ihr hohes Alter nicht besser gewordenen Hypothese und des gan- zen babylonischen Thurmes darauf aufgeführter Geschichtsklit- terungen zu sein. Indem man mit dem lydischen Piraten- wesen den alten etruskischen Seeverkehr verknüpfte und endlich noch — zuerst nachweislich thut es Thukydides —

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/96>, abgerufen am 29.04.2024.