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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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DIE ETRUSKER.
die torrhebischen Seeräuber mit Recht oder Unrecht mit dem
auf allen Meeren plündernden und hausenden Flibustiervolk
der Pelasger zusammenbrachte, entstand eine der heillosesten
Verwirrungen geschichtlicher Ueberlieferung. Die Tyrrhener
bezeichnen bald die lydischen Torrheber -- so in den älte-
sten Quellen, wie in den homerischen Hymnen; bald als
Tyrrhener-Pelasger oder auch bloss Tyrrhener die pelasgische
Nation; bald endlich die italischen Etrusker, ohne dass die
letzteren mit diesen oder jenen in der Abstammung und im
Verkehr jemals etwas gemein gehabt hätten.

Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestim-
men, was die nachweislich ältesten Sitze der Etrusker waren
und wie sie von dort aus sich weiter bewegten. Dass sie vor
der grossen keltischen Invasion in der Landschaft nördlich
vom Padus sassen, östlich an der Etsch grenzend mit den
Venetern illyrischen (albanesischen?) Stammes, westlich mit
den Ligurern, ist vielfach beglaubigt; vornämlich zeugt dafür
der rauhe etruskische Dialekt, den noch in Livius Zeit die
Bewohner der rätischen Alpen (Graubündten und Tirol) rede-
ten, so wie das bis in späte Zeit tuskisch gebliebene Mantua.
Südlich vom Padus und an den Mündungen dieses Flusses
mischten sich Etrusker und Umbrer, jene als der herrschende,
diese als der ältere Stamm, der die alten Kaufstädte Hatria
und Spina gegründet hatte, während Felsina (Bologna) und
Ravenna tuskischer Gründung scheinen. Es hat lange ge-
währt, ehe die Kelten den Padus überschritten; womit es zu-
sammenhängt, dass auf dem rechten Ufer desselben das etrus-
kische und umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen
hat als auf dem früh aufgegebenen linken. Doch ist im Ganzen
dieses nordetruskische Gebiet zu rasch von einer Nation an
die andere gelangt, als dass eine dauerhafte Volksentwick-
lung hier sich hätte gestalten können. -- Weit wichtiger für
die Geschichte wurde die grosse Ansiedlung der Tusker in
dem Lande, das noch heute ihren Namen trägt. Mögen
auch Umbrer oder Ligurer hier einstmals gewohnt haben, so
sind doch ihre Spuren durch die etruskische Occupation
und Civilisation vollständig vertilgt worden. In diesem Gebiet,
das am Meer von Pisae bis Tarquinii reicht und östlich vom
Apennin abgeschlossen wird, hat die etruskische Nationalität
ihre bleibende Stätte gefunden und mit grosser Zähigkeit bis
in die Kaiserzeit hinein sich behauptet. Die Nordgrenze des
eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; das Gebiet

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DIE ETRUSKER.
die torrhebischen Seeräuber mit Recht oder Unrecht mit dem
auf allen Meeren plündernden und hausenden Flibustiervolk
der Pelasger zusammenbrachte, entstand eine der heillosesten
Verwirrungen geschichtlicher Ueberlieferung. Die Tyrrhener
bezeichnen bald die lydischen Torrheber — so in den älte-
sten Quellen, wie in den homerischen Hymnen; bald als
Tyrrhener-Pelasger oder auch bloſs Tyrrhener die pelasgische
Nation; bald endlich die italischen Etrusker, ohne daſs die
letzteren mit diesen oder jenen in der Abstammung und im
Verkehr jemals etwas gemein gehabt hätten.

Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestim-
men, was die nachweislich ältesten Sitze der Etrusker waren
und wie sie von dort aus sich weiter bewegten. Daſs sie vor
der groſsen keltischen Invasion in der Landschaft nördlich
vom Padus saſsen, östlich an der Etsch grenzend mit den
Venetern illyrischen (albanesischen?) Stammes, westlich mit
den Ligurern, ist vielfach beglaubigt; vornämlich zeugt dafür
der rauhe etruskische Dialekt, den noch in Livius Zeit die
Bewohner der rätischen Alpen (Graubündten und Tirol) rede-
ten, so wie das bis in späte Zeit tuskisch gebliebene Mantua.
Südlich vom Padus und an den Mündungen dieses Flusses
mischten sich Etrusker und Umbrer, jene als der herrschende,
diese als der ältere Stamm, der die alten Kaufstädte Hatria
und Spina gegründet hatte, während Felsina (Bologna) und
Ravenna tuskischer Gründung scheinen. Es hat lange ge-
währt, ehe die Kelten den Padus überschritten; womit es zu-
sammenhängt, daſs auf dem rechten Ufer desselben das etrus-
kische und umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen
hat als auf dem früh aufgegebenen linken. Doch ist im Ganzen
dieses nordetruskische Gebiet zu rasch von einer Nation an
die andere gelangt, als daſs eine dauerhafte Volksentwick-
lung hier sich hätte gestalten können. — Weit wichtiger für
die Geschichte wurde die groſse Ansiedlung der Tusker in
dem Lande, das noch heute ihren Namen trägt. Mögen
auch Umbrer oder Ligurer hier einstmals gewohnt haben, so
sind doch ihre Spuren durch die etruskische Occupation
und Civilisation vollständig vertilgt worden. In diesem Gebiet,
das am Meer von Pisae bis Tarquinii reicht und östlich vom
Apennin abgeschlossen wird, hat die etruskische Nationalität
ihre bleibende Stätte gefunden und mit groſser Zähigkeit bis
in die Kaiserzeit hinein sich behauptet. Die Nordgrenze des
eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; das Gebiet

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[83/0097] DIE ETRUSKER. die torrhebischen Seeräuber mit Recht oder Unrecht mit dem auf allen Meeren plündernden und hausenden Flibustiervolk der Pelasger zusammenbrachte, entstand eine der heillosesten Verwirrungen geschichtlicher Ueberlieferung. Die Tyrrhener bezeichnen bald die lydischen Torrheber — so in den älte- sten Quellen, wie in den homerischen Hymnen; bald als Tyrrhener-Pelasger oder auch bloſs Tyrrhener die pelasgische Nation; bald endlich die italischen Etrusker, ohne daſs die letzteren mit diesen oder jenen in der Abstammung und im Verkehr jemals etwas gemein gehabt hätten. Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestim- men, was die nachweislich ältesten Sitze der Etrusker waren und wie sie von dort aus sich weiter bewegten. Daſs sie vor der groſsen keltischen Invasion in der Landschaft nördlich vom Padus saſsen, östlich an der Etsch grenzend mit den Venetern illyrischen (albanesischen?) Stammes, westlich mit den Ligurern, ist vielfach beglaubigt; vornämlich zeugt dafür der rauhe etruskische Dialekt, den noch in Livius Zeit die Bewohner der rätischen Alpen (Graubündten und Tirol) rede- ten, so wie das bis in späte Zeit tuskisch gebliebene Mantua. Südlich vom Padus und an den Mündungen dieses Flusses mischten sich Etrusker und Umbrer, jene als der herrschende, diese als der ältere Stamm, der die alten Kaufstädte Hatria und Spina gegründet hatte, während Felsina (Bologna) und Ravenna tuskischer Gründung scheinen. Es hat lange ge- währt, ehe die Kelten den Padus überschritten; womit es zu- sammenhängt, daſs auf dem rechten Ufer desselben das etrus- kische und umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen hat als auf dem früh aufgegebenen linken. Doch ist im Ganzen dieses nordetruskische Gebiet zu rasch von einer Nation an die andere gelangt, als daſs eine dauerhafte Volksentwick- lung hier sich hätte gestalten können. — Weit wichtiger für die Geschichte wurde die groſse Ansiedlung der Tusker in dem Lande, das noch heute ihren Namen trägt. Mögen auch Umbrer oder Ligurer hier einstmals gewohnt haben, so sind doch ihre Spuren durch die etruskische Occupation und Civilisation vollständig vertilgt worden. In diesem Gebiet, das am Meer von Pisae bis Tarquinii reicht und östlich vom Apennin abgeschlossen wird, hat die etruskische Nationalität ihre bleibende Stätte gefunden und mit groſser Zähigkeit bis in die Kaiserzeit hinein sich behauptet. Die Nordgrenze des eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; das Gebiet 6*

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/97>, abgerufen am 29.04.2024.