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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
sen (S. 52). Gaius Gracchus* stiess diese Verfügung durch einen
Volkschluss um und belastete nicht bloss die bis dahin fast steuer-
freie Provinz mit den ausgedehntesten indirecten und directen
Abgaben, namentlich dem Bodenzehnten, sondern er verfügte
auch, dass diese Abgaben für die gesammte Provinz und in Rom
verpachtet werden sollten -- eine Bestimmung, die thatsächlich
jede Betheiligung der Provinzialen ausschloss und in dieser
Mittelsmännerschaft für Zehnten, Hutgeld und Zölle der Provinz
Asia eine Capitalistenassociation von colossaler Ausdehnung ins
Leben rief. Wenn hier dem Kaufmannsstand eine Goldgrube er-
öffnet und in den Mitgliedern der neuen Gesellschaft ein selbst
der Regierung imponirender Kern der hohen Finanz, ein ,Senat
der Kaufmannschaft' constituirt ward, so ward demselben zu-
gleich in den Geschwornengerichten eine bestimmte öffentliche
Thätigkeit zugewiesen. Das Gebiet des Criminalprozesses, der
von Rechtswegen vor die Bürgerschaft gehörte, war bei den Rö-
mern von Haus aus sehr eng und ward, wie bemerkt (S. 101),
durch Gracchus noch weiter verengt; die meisten Prozesse, so-
wohl die wegen gemeiner Verbrechen als auch die Civilsachen, wur-
den entweder von Einzelgeschwornen oder stehenden und ausser-
ordentlichen Commissionen entschieden. Bisher waren jene und
diese ausschliesslich aus dem Senat genommen worden; Grac-
chus überwies sowohl in den eigentlichen Civilprozessen als
bei den ständigen Commissionen die Geschwornenfunctionen an
den Ritterstand, indem er die Geschwornenliste nach Analo-
gie der Rittercenturien aus den sämmtlichen ritterfähigen Indi-
viduen jährlich neu formiren liess und die Senatoren geradezu,
die jungen Männer der senatorischen Familien durch Festsetzung
einer gewissen Altersgrenze von den Gerichten ausschloss. Es
ist nicht unwahrscheinlich, dass die Geschwornenwahl vorwie-
gend gelenkt ward auf dieselben Männer, die in den grossen
kaufmännischen Associationen namentlich der asiatischen und
sonstigen Steuerpächter die erste Rolle spielten, eben weil diese
ein sehr nahes eigenes Interesse hatten in den Gerichten zu
sitzen; fielen also die Geschwornenliste und die Publicanensocie-
täten in ihren Spitzen zusammen, so begreift man um so mehr
die Bedeutung des also constituirten Gegensenats. Die wesent-
liche Folge hievon war, dass, während bisher es nur zwei Gewal-

* Dass er und nicht Tiberius der Urheber dieses Gesetzes ist, zeigt
jetzt Fronto in den Briefen an Verus z. A. Vgl. Gracchus bei Gell. 11,
10; Cic. de rep. 3, 29; Verr. 3, 6, 12; Vellei. 2, 6.

DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
sen (S. 52). Gaius Gracchus* stieſs diese Verfügung durch einen
Volkschluſs um und belastete nicht bloſs die bis dahin fast steuer-
freie Provinz mit den ausgedehntesten indirecten und directen
Abgaben, namentlich dem Bodenzehnten, sondern er verfügte
auch, daſs diese Abgaben für die gesammte Provinz und in Rom
verpachtet werden sollten — eine Bestimmung, die thatsächlich
jede Betheiligung der Provinzialen ausschloſs und in dieser
Mittelsmännerschaft für Zehnten, Hutgeld und Zölle der Provinz
Asia eine Capitalistenassociation von colossaler Ausdehnung ins
Leben rief. Wenn hier dem Kaufmannsstand eine Goldgrube er-
öffnet und in den Mitgliedern der neuen Gesellschaft ein selbst
der Regierung imponirender Kern der hohen Finanz, ein ‚Senat
der Kaufmannschaft‘ constituirt ward, so ward demselben zu-
gleich in den Geschwornengerichten eine bestimmte öffentliche
Thätigkeit zugewiesen. Das Gebiet des Criminalprozesses, der
von Rechtswegen vor die Bürgerschaft gehörte, war bei den Rö-
mern von Haus aus sehr eng und ward, wie bemerkt (S. 101),
durch Gracchus noch weiter verengt; die meisten Prozesse, so-
wohl die wegen gemeiner Verbrechen als auch die Civilsachen, wur-
den entweder von Einzelgeschwornen oder stehenden und auſser-
ordentlichen Commissionen entschieden. Bisher waren jene und
diese ausschlieſslich aus dem Senat genommen worden; Grac-
chus überwies sowohl in den eigentlichen Civilprozessen als
bei den ständigen Commissionen die Geschwornenfunctionen an
den Ritterstand, indem er die Geschwornenliste nach Analo-
gie der Rittercenturien aus den sämmtlichen ritterfähigen Indi-
viduen jährlich neu formiren lieſs und die Senatoren geradezu,
die jungen Männer der senatorischen Familien durch Festsetzung
einer gewissen Altersgrenze von den Gerichten ausschloſs. Es
ist nicht unwahrscheinlich, daſs die Geschwornenwahl vorwie-
gend gelenkt ward auf dieselben Männer, die in den groſsen
kaufmännischen Associationen namentlich der asiatischen und
sonstigen Steuerpächter die erste Rolle spielten, eben weil diese
ein sehr nahes eigenes Interesse hatten in den Gerichten zu
sitzen; fielen also die Geschwornenliste und die Publicanensocie-
täten in ihren Spitzen zusammen, so begreift man um so mehr
die Bedeutung des also constituirten Gegensenats. Die wesent-
liche Folge hievon war, daſs, während bisher es nur zwei Gewal-

* Daſs er und nicht Tiberius der Urheber dieses Gesetzes ist, zeigt
jetzt Fronto in den Briefen an Verus z. A. Vgl. Gracchus bei Gell. 11,
10; Cic. de rep. 3, 29; Verr. 3, 6, 12; Vellei. 2, 6.
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[105/0115] DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS. sen (S. 52). Gaius Gracchus * stieſs diese Verfügung durch einen Volkschluſs um und belastete nicht bloſs die bis dahin fast steuer- freie Provinz mit den ausgedehntesten indirecten und directen Abgaben, namentlich dem Bodenzehnten, sondern er verfügte auch, daſs diese Abgaben für die gesammte Provinz und in Rom verpachtet werden sollten — eine Bestimmung, die thatsächlich jede Betheiligung der Provinzialen ausschloſs und in dieser Mittelsmännerschaft für Zehnten, Hutgeld und Zölle der Provinz Asia eine Capitalistenassociation von colossaler Ausdehnung ins Leben rief. Wenn hier dem Kaufmannsstand eine Goldgrube er- öffnet und in den Mitgliedern der neuen Gesellschaft ein selbst der Regierung imponirender Kern der hohen Finanz, ein ‚Senat der Kaufmannschaft‘ constituirt ward, so ward demselben zu- gleich in den Geschwornengerichten eine bestimmte öffentliche Thätigkeit zugewiesen. Das Gebiet des Criminalprozesses, der von Rechtswegen vor die Bürgerschaft gehörte, war bei den Rö- mern von Haus aus sehr eng und ward, wie bemerkt (S. 101), durch Gracchus noch weiter verengt; die meisten Prozesse, so- wohl die wegen gemeiner Verbrechen als auch die Civilsachen, wur- den entweder von Einzelgeschwornen oder stehenden und auſser- ordentlichen Commissionen entschieden. Bisher waren jene und diese ausschlieſslich aus dem Senat genommen worden; Grac- chus überwies sowohl in den eigentlichen Civilprozessen als bei den ständigen Commissionen die Geschwornenfunctionen an den Ritterstand, indem er die Geschwornenliste nach Analo- gie der Rittercenturien aus den sämmtlichen ritterfähigen Indi- viduen jährlich neu formiren lieſs und die Senatoren geradezu, die jungen Männer der senatorischen Familien durch Festsetzung einer gewissen Altersgrenze von den Gerichten ausschloſs. Es ist nicht unwahrscheinlich, daſs die Geschwornenwahl vorwie- gend gelenkt ward auf dieselben Männer, die in den groſsen kaufmännischen Associationen namentlich der asiatischen und sonstigen Steuerpächter die erste Rolle spielten, eben weil diese ein sehr nahes eigenes Interesse hatten in den Gerichten zu sitzen; fielen also die Geschwornenliste und die Publicanensocie- täten in ihren Spitzen zusammen, so begreift man um so mehr die Bedeutung des also constituirten Gegensenats. Die wesent- liche Folge hievon war, daſs, während bisher es nur zwei Gewal- * Daſs er und nicht Tiberius der Urheber dieses Gesetzes ist, zeigt jetzt Fronto in den Briefen an Verus z. A. Vgl. Gracchus bei Gell. 11, 10; Cic. de rep. 3, 29; Verr. 3, 6, 12; Vellei. 2, 6.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/115>, abgerufen am 07.05.2024.