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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL VII.
begegnen; mit den Ausläufern und Vorposten des ungeheuren
Stammes hatten die Italiker bereits an der Tiber und am Po, in
den Bergen Castiliens und Kärnthens, ja tief im inneren Klein-
asien gefochten; erst hier aber ward der Hauptstock in seinem
Kerne von ihren Angriffen erfasst. Der Keltenstamm hatte bei
seiner Ansiedlung in Mitteleuropa sich vornämlich über die rei-
chen Flussthäler und das anmuthige Hügelland des heutigen
Frankreich mit Einschluss der westlichen Striche Deutschlands
und der Schweiz ergossen und von hier aus wenigstens den süd-
lichen Theil von England, vielleicht schon damals ganz Gross-
britannien und Irland besetzt*; mehr als irgendwo sonst hatte er
hier eine breite geographisch geschlossene Völkermasse gebildet.
Trotz der Unterschiede in Sprache und Sitte, die natürlich inner-
halb dieses weiten Gebietes nicht fehlten, scheint dennoch ein
reger gegenseitiger Verkehr, ein geistiges Gefühl der Gemein-
schaft diese Völkerschaften zusammengeknüpft zu haben; wo-
gegen mit den Kelten in Spanien und im heutigen Oesterreich
wohl ein gewisser localer Zusammenhang stattfand, aber doch
theils die gewaltigen Bergscheiden der Pyrenäen und der Alpen,
theils die hier ebenfalls einwirkenden Uebergriffe der Römer und
der Germanen den Verkehr und den geistigen Zusammenhang der
stammverwandten Völkerschaften ganz anders unterbrachen als
der schmale Meerarm den Verkehr der continentalen und der
brittischen Kelten. Leider ist es uns nicht vergönnt die innere
Entwicklungsgeschichte des merkwürdigen Volkes in diesen sei-
nen Hauptsitzen von Stufe zu Stufe zu verfolgen; wir müssen
uns begnügen dessen culturhistorischen und politischen Zustand,
wie er hier zu Caesars Zeit uns entgegentritt, wenigstens in sei-
nen Umrissen darzustellen.

Gallien war nach den Berichten der Alten verhältnissmässig
wohl bevölkert. Einzelne Angaben lassen schliessen, dass in den
belgischen Districten etwa 900 Köpfe auf die Quadratmeile ka-
men, ein Verhältniss wie es heutzutage etwa für Wallis und für
Liefland gilt, in dem helvetischen Canton etwa 1100;** es ist

* Auf eine stetige Einwanderung der belgischen Kelten nach Britannien
deuten die von belgischen Gauen entlehnten Namen der englischen Völker-
schaften zu beiden Ufern der Themse, wie der der Atrebaten, der Belgen,
ja der Britanner selbst, welcher ursprünglich von den an der Somme unter-
halb Amiens ansässigen Brittonen auf einen englischen Gau und sodann auf
die ganze Insel übertragen zu sein scheint. Auch die englische Goldmün-
zung ist aus der belgischen abgeleitet und ursprünglich mit ihr identisch.
** Das erste Aufgebot der belgischen Cantone ausschliesslich der Re-

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begegnen; mit den Ausläufern und Vorposten des ungeheuren
Stammes hatten die Italiker bereits an der Tiber und am Po, in
den Bergen Castiliens und Kärnthens, ja tief im inneren Klein-
asien gefochten; erst hier aber ward der Hauptstock in seinem
Kerne von ihren Angriffen erfaſst. Der Keltenstamm hatte bei
seiner Ansiedlung in Mitteleuropa sich vornämlich über die rei-
chen Fluſsthäler und das anmuthige Hügelland des heutigen
Frankreich mit Einschluſs der westlichen Striche Deutschlands
und der Schweiz ergossen und von hier aus wenigstens den süd-
lichen Theil von England, vielleicht schon damals ganz Groſs-
britannien und Irland besetzt*; mehr als irgendwo sonst hatte er
hier eine breite geographisch geschlossene Völkermasse gebildet.
Trotz der Unterschiede in Sprache und Sitte, die natürlich inner-
halb dieses weiten Gebietes nicht fehlten, scheint dennoch ein
reger gegenseitiger Verkehr, ein geistiges Gefühl der Gemein-
schaft diese Völkerschaften zusammengeknüpft zu haben; wo-
gegen mit den Kelten in Spanien und im heutigen Oesterreich
wohl ein gewisser localer Zusammenhang stattfand, aber doch
theils die gewaltigen Bergscheiden der Pyrenäen und der Alpen,
theils die hier ebenfalls einwirkenden Uebergriffe der Römer und
der Germanen den Verkehr und den geistigen Zusammenhang der
stammverwandten Völkerschaften ganz anders unterbrachen als
der schmale Meerarm den Verkehr der continentalen und der
brittischen Kelten. Leider ist es uns nicht vergönnt die innere
Entwicklungsgeschichte des merkwürdigen Volkes in diesen sei-
nen Hauptsitzen von Stufe zu Stufe zu verfolgen; wir müssen
uns begnügen dessen culturhistorischen und politischen Zustand,
wie er hier zu Caesars Zeit uns entgegentritt, wenigstens in sei-
nen Umrissen darzustellen.

Gallien war nach den Berichten der Alten verhältniſsmäſsig
wohl bevölkert. Einzelne Angaben lassen schlieſsen, daſs in den
belgischen Districten etwa 900 Köpfe auf die Quadratmeile ka-
men, ein Verhältniſs wie es heutzutage etwa für Wallis und für
Liefland gilt, in dem helvetischen Canton etwa 1100;** es ist

* Auf eine stetige Einwanderung der belgischen Kelten nach Britannien
deuten die von belgischen Gauen entlehnten Namen der englischen Völker-
schaften zu beiden Ufern der Themse, wie der der Atrebaten, der Belgen,
ja der Britanner selbst, welcher ursprünglich von den an der Somme unter-
halb Amiens ansässigen Brittonen auf einen englischen Gau und sodann auf
die ganze Insel übertragen zu sein scheint. Auch die englische Goldmün-
zung ist aus der belgischen abgeleitet und ursprünglich mit ihr identisch.
** Das erste Aufgebot der belgischen Cantone ausschlieſslich der Re-
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[208/0218] FÜNFTES BUCH. KAPITEL VII. begegnen; mit den Ausläufern und Vorposten des ungeheuren Stammes hatten die Italiker bereits an der Tiber und am Po, in den Bergen Castiliens und Kärnthens, ja tief im inneren Klein- asien gefochten; erst hier aber ward der Hauptstock in seinem Kerne von ihren Angriffen erfaſst. Der Keltenstamm hatte bei seiner Ansiedlung in Mitteleuropa sich vornämlich über die rei- chen Fluſsthäler und das anmuthige Hügelland des heutigen Frankreich mit Einschluſs der westlichen Striche Deutschlands und der Schweiz ergossen und von hier aus wenigstens den süd- lichen Theil von England, vielleicht schon damals ganz Groſs- britannien und Irland besetzt *; mehr als irgendwo sonst hatte er hier eine breite geographisch geschlossene Völkermasse gebildet. Trotz der Unterschiede in Sprache und Sitte, die natürlich inner- halb dieses weiten Gebietes nicht fehlten, scheint dennoch ein reger gegenseitiger Verkehr, ein geistiges Gefühl der Gemein- schaft diese Völkerschaften zusammengeknüpft zu haben; wo- gegen mit den Kelten in Spanien und im heutigen Oesterreich wohl ein gewisser localer Zusammenhang stattfand, aber doch theils die gewaltigen Bergscheiden der Pyrenäen und der Alpen, theils die hier ebenfalls einwirkenden Uebergriffe der Römer und der Germanen den Verkehr und den geistigen Zusammenhang der stammverwandten Völkerschaften ganz anders unterbrachen als der schmale Meerarm den Verkehr der continentalen und der brittischen Kelten. Leider ist es uns nicht vergönnt die innere Entwicklungsgeschichte des merkwürdigen Volkes in diesen sei- nen Hauptsitzen von Stufe zu Stufe zu verfolgen; wir müssen uns begnügen dessen culturhistorischen und politischen Zustand, wie er hier zu Caesars Zeit uns entgegentritt, wenigstens in sei- nen Umrissen darzustellen. Gallien war nach den Berichten der Alten verhältniſsmäſsig wohl bevölkert. Einzelne Angaben lassen schlieſsen, daſs in den belgischen Districten etwa 900 Köpfe auf die Quadratmeile ka- men, ein Verhältniſs wie es heutzutage etwa für Wallis und für Liefland gilt, in dem helvetischen Canton etwa 1100; ** es ist * Auf eine stetige Einwanderung der belgischen Kelten nach Britannien deuten die von belgischen Gauen entlehnten Namen der englischen Völker- schaften zu beiden Ufern der Themse, wie der der Atrebaten, der Belgen, ja der Britanner selbst, welcher ursprünglich von den an der Somme unter- halb Amiens ansässigen Brittonen auf einen englischen Gau und sodann auf die ganze Insel übertragen zu sein scheint. Auch die englische Goldmün- zung ist aus der belgischen abgeleitet und ursprünglich mit ihr identisch. ** Das erste Aufgebot der belgischen Cantone ausschlieſslich der Re-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/218>, abgerufen am 30.04.2024.