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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL VII.
Gaunamen nach zu nennen wussten, sondern dieselben ihnen
nur bekannt sind unter den allgemeinen Bezeichnungen der Sue-
ben, das ist der Nomaden, der schweifenden Leute, und der Mar-
comannen, das ist der Landwehr * -- Namen, die in
Caesars
Zeit schwerlich schon Gaunamen waren, obwohl sie den Römern
als solche erschienen und später auch vielfach Gaunamen ge-
worden sind. Der gewaltigste Andrang dieser grossen Nation
traf die Kelten. Die Kämpfe, die die Deutschen um den Besitz
der Landschaften östlich vom Rheine mit den Kelten geführt
haben mögen, entziehen sich vollständig unsern Blicken. Wir
vermögen nur zu erkennen, dass um das Ende des siebenten
Jahrhunderts Roms schon alles Land bis zum Rhein den Kelten
verloren war, die Boier, die einst in Baiern und Böhmen geses-
sen haben mochten (II, 159), heimathlos herumirrten und selbst
der ehemals von den Helvetiern besessene Schwarzwald (II, 159)
wenn auch nicht von den nächstwohnenden deutschen Stämmen
in Besitz genommen, doch wenigstens wüstes Grenzstreitland
und vermuthlich schon damals war, was er später hiess: die hel-
vetische Einöde. Die barbarische Strategik der Deutschen durch
meilenweite Wüstlegung der Nachbarschaft sich vor feindlichen
Ueberfällen zu sichern scheint hier im grössten Massstab An-
wendung gefunden zu haben. -- Aber die Deutschen waren nicht
stehen geblieben am Rheine. Der seinem Kerne nach aus deut-
schen Stämmen zusammengesetzte Heereszug der Kimbrer und
Teutonen, der funfzig Jahre zuvor über Pannonien, Gallien, Ita-
lien und Spanien so gewaltig hingebraust war, schien nichts ge-
wesen zu sein als eine grossartige Recognoscirung. Schon hat-
ten westlich vom Rhein, namentlich dem unteren Laufe dessel-
ben, verschiedene deutsche Stämme bleibende Sitze gefunden;
als Eroberer eingedrungen fuhren diese Ansiedler fort von ihren

* So sind Caesars Sueben wahrscheinlich
die Chatten, ohne dass man
darum berechtigt wäre anzunehmen, dass diese Bezeichnung zu Caesars Zeit
und noch viel später nicht auch jedem andern deutschen Stamme beigelegt
ward, der als ein regelmässig wandernder bezeichnet werden konnte.
Wenn also auch, wie nicht zu zweifeln, der ,König der Sueben' bei
Mela
(3, 1) und Plinius (n. n. 2, 67, 170) Ariovist ist, so folgt darum noch kei-
neswegs, dass Ariovist ein Chatte war. Die Marcomannen als Bezeichnung
eines bestimmten Volkes lassen sich vor Marbod nicht nachweisen; es ist
sehr möglich, dass das Wort bis dahin nichts war als was es etymologisch
heisst, die Benennung der Land- oder Grenzwehr. Wenn Caesar 1, 51
sie unter den im Heere Ariovists fechtenden Völkern erwähnt, so kann er
auch hier eine bloss appellative Bezeichnung ebenso missverstanden haben,
wie dies bei den Sueben entschieden der Fall ist.

FÜNFTES BUCH. KAPITEL VII.
Gaunamen nach zu nennen wuſsten, sondern dieselben ihnen
nur bekannt sind unter den allgemeinen Bezeichnungen der Sue-
ben, das ist der Nomaden, der schweifenden Leute, und der Mar-
comannen, das ist der Landwehr * — Namen, die in
Caesars
Zeit schwerlich schon Gaunamen waren, obwohl sie den Römern
als solche erschienen und später auch vielfach Gaunamen ge-
worden sind. Der gewaltigste Andrang dieser groſsen Nation
traf die Kelten. Die Kämpfe, die die Deutschen um den Besitz
der Landschaften östlich vom Rheine mit den Kelten geführt
haben mögen, entziehen sich vollständig unsern Blicken. Wir
vermögen nur zu erkennen, daſs um das Ende des siebenten
Jahrhunderts Roms schon alles Land bis zum Rhein den Kelten
verloren war, die Boier, die einst in Baiern und Böhmen geses-
sen haben mochten (II, 159), heimathlos herumirrten und selbst
der ehemals von den Helvetiern besessene Schwarzwald (II, 159)
wenn auch nicht von den nächstwohnenden deutschen Stämmen
in Besitz genommen, doch wenigstens wüstes Grenzstreitland
und vermuthlich schon damals war, was er später hieſs: die hel-
vetische Einöde. Die barbarische Strategik der Deutschen durch
meilenweite Wüstlegung der Nachbarschaft sich vor feindlichen
Ueberfällen zu sichern scheint hier im gröſsten Maſsstab An-
wendung gefunden zu haben. — Aber die Deutschen waren nicht
stehen geblieben am Rheine. Der seinem Kerne nach aus deut-
schen Stämmen zusammengesetzte Heereszug der Kimbrer und
Teutonen, der funfzig Jahre zuvor über Pannonien, Gallien, Ita-
lien und Spanien so gewaltig hingebraust war, schien nichts ge-
wesen zu sein als eine groſsartige Recognoscirung. Schon hat-
ten westlich vom Rhein, namentlich dem unteren Laufe dessel-
ben, verschiedene deutsche Stämme bleibende Sitze gefunden;
als Eroberer eingedrungen fuhren diese Ansiedler fort von ihren

* So sind Caesars Sueben wahrscheinlich
die Chatten, ohne daſs man
darum berechtigt wäre anzunehmen, daſs diese Bezeichnung zu Caesars Zeit
und noch viel später nicht auch jedem andern deutschen Stamme beigelegt
ward, der als ein regelmäſsig wandernder bezeichnet werden konnte.
Wenn also auch, wie nicht zu zweifeln, der ‚König der Sueben‘ bei
Mela
(3, 1) und Plinius (n. n. 2, 67, 170) Ariovist ist, so folgt darum noch kei-
neswegs, daſs Ariovist ein Chatte war. Die Marcomannen als Bezeichnung
eines bestimmten Volkes lassen sich vor Marbod nicht nachweisen; es ist
sehr möglich, daſs das Wort bis dahin nichts war als was es etymologisch
heiſst, die Benennung der Land- oder Grenzwehr. Wenn Caesar 1, 51
sie unter den im Heere Ariovists fechtenden Völkern erwähnt, so kann er
auch hier eine bloſs appellative Bezeichnung ebenso miſsverstanden haben,
wie dies bei den Sueben entschieden der Fall ist.
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[222/0232] FÜNFTES BUCH. KAPITEL VII. Gaunamen nach zu nennen wuſsten, sondern dieselben ihnen nur bekannt sind unter den allgemeinen Bezeichnungen der Sue- ben, das ist der Nomaden, der schweifenden Leute, und der Mar- comannen, das ist der Landwehr * — Namen, die in Caesars Zeit schwerlich schon Gaunamen waren, obwohl sie den Römern als solche erschienen und später auch vielfach Gaunamen ge- worden sind. Der gewaltigste Andrang dieser groſsen Nation traf die Kelten. Die Kämpfe, die die Deutschen um den Besitz der Landschaften östlich vom Rheine mit den Kelten geführt haben mögen, entziehen sich vollständig unsern Blicken. Wir vermögen nur zu erkennen, daſs um das Ende des siebenten Jahrhunderts Roms schon alles Land bis zum Rhein den Kelten verloren war, die Boier, die einst in Baiern und Böhmen geses- sen haben mochten (II, 159), heimathlos herumirrten und selbst der ehemals von den Helvetiern besessene Schwarzwald (II, 159) wenn auch nicht von den nächstwohnenden deutschen Stämmen in Besitz genommen, doch wenigstens wüstes Grenzstreitland und vermuthlich schon damals war, was er später hieſs: die hel- vetische Einöde. Die barbarische Strategik der Deutschen durch meilenweite Wüstlegung der Nachbarschaft sich vor feindlichen Ueberfällen zu sichern scheint hier im gröſsten Maſsstab An- wendung gefunden zu haben. — Aber die Deutschen waren nicht stehen geblieben am Rheine. Der seinem Kerne nach aus deut- schen Stämmen zusammengesetzte Heereszug der Kimbrer und Teutonen, der funfzig Jahre zuvor über Pannonien, Gallien, Ita- lien und Spanien so gewaltig hingebraust war, schien nichts ge- wesen zu sein als eine groſsartige Recognoscirung. Schon hat- ten westlich vom Rhein, namentlich dem unteren Laufe dessel- ben, verschiedene deutsche Stämme bleibende Sitze gefunden; als Eroberer eingedrungen fuhren diese Ansiedler fort von ihren * So sind Caesars Sueben wahrscheinlich die Chatten, ohne daſs man darum berechtigt wäre anzunehmen, daſs diese Bezeichnung zu Caesars Zeit und noch viel später nicht auch jedem andern deutschen Stamme beigelegt ward, der als ein regelmäſsig wandernder bezeichnet werden konnte. Wenn also auch, wie nicht zu zweifeln, der ‚König der Sueben‘ bei Mela (3, 1) und Plinius (n. n. 2, 67, 170) Ariovist ist, so folgt darum noch kei- neswegs, daſs Ariovist ein Chatte war. Die Marcomannen als Bezeichnung eines bestimmten Volkes lassen sich vor Marbod nicht nachweisen; es ist sehr möglich, daſs das Wort bis dahin nichts war als was es etymologisch heiſst, die Benennung der Land- oder Grenzwehr. Wenn Caesar 1, 51 sie unter den im Heere Ariovists fechtenden Völkern erwähnt, so kann er auch hier eine bloſs appellative Bezeichnung ebenso miſsverstanden haben, wie dies bei den Sueben entschieden der Fall ist.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/232>, abgerufen am 30.04.2024.