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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS.
gallischen Umwohnern gleich wie von Unterthanen Geisseln ein-
zufordern und jährlichen Tribut zu erheben. Dahin gehörten die
Aduatuker, die aus einem Splitter der Kimbrermasse (II, 174)
zu einem ansehnlichen Gau angewachsen waren, und eine Anzahl
anderer später unter dem Namen der Tungrer zusammengefasster
Völkerschaften an der Maas in der Gegend von Lüttich. In dem
ganzen Gebiet der Schelde, Maas und Mosel war die Bevölkerung
stark mit deutschen Elementen gemischt; die mächtigen Nervier
(im Hennegau) bezeichnet eine achtbare Autorität geradezu als
Germanen. Diese ersten Ansiedlungen waren vielleicht gering-
fügig; unbedeutend waren sie nicht, denn in dem chaotischen
Dunkel, in dem wir um diese Zeit die Völkerschaften am Rhein
auf- und niederwogen sehen, lässt sich doch wohl erkennen,
dass auf der Spur jener Vorposten ihre Landsleute sich anschick-
ten in Massen den Rhein zu überschreiten. Von zwei Seiten
durch die Fremdherrschaft bedroht und in sich zerrissen war es
kaum zu erwarten, dass die unglückliche keltische Nation sich
jetzt noch emporraffen und mit eigener Kraft sich erretten werde.
Ihre Zersplitterung und ihr Untergang in der Zersplitterung war
bisher ihre Geschichte; wie sollte eine Nation, die keinen Tag
nannte gleich denen von Marathon und Salamis, von Aricia und
dem raudischen Felde, eine Nation, die selbst in ihrer frischen
Zeit keinen Versuch gemacht hatte Massalia mit gesammter Hand
zu vernichten, jetzt, da es Abend ward, so furchtbarer Feinde
sich erwehren?

Je weniger die Kelten sich selbst überlassen den Germanen ge-
wachsen waren, desto mehr Ursache hatten die Römer die zwischen
den beiden Nationen obwaltenden Verwickelungen sorgsam zu über-
wachen. Waren sie auch von den daraus entspringenden Bewe-
gungen bis jetzt nicht unmittelbar berührt worden, so waren sie
doch bei dem Ausgang derselben mit ihren wichtigsten Inter-
essen betheiligt. Begreiflicher Weise hatte die innere Haltung
der keltischen Nation sich mit ihren auswärtigen Beziehungen
rasch und nachhaltig verflochten. Wie in Griechenland die lake-
daemonische Partei sich gegen die Athener mit Persien verband,
so hatten die Römer von ihrem ersten Auftreten jenseit der Alpen
an gegen die Arverner, die damals unter den südlichen Kelten
die führende Macht waren, an deren Nebenbuhlern um die Hege-
monie, den Haeduern eine Stütze gefunden und mit Hülfe dieser
neuen ,Brüder der römischen Nation' nicht bloss die Allobrogen
und einen grossen Theil des mittelbaren Gebiets der Arverner
sich unterthänig gemacht, sondern auch in dem frei gebliebenen

DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS.
gallischen Umwohnern gleich wie von Unterthanen Geiſseln ein-
zufordern und jährlichen Tribut zu erheben. Dahin gehörten die
Aduatuker, die aus einem Splitter der Kimbrermasse (II, 174)
zu einem ansehnlichen Gau angewachsen waren, und eine Anzahl
anderer später unter dem Namen der Tungrer zusammengefaſster
Völkerschaften an der Maas in der Gegend von Lüttich. In dem
ganzen Gebiet der Schelde, Maas und Mosel war die Bevölkerung
stark mit deutschen Elementen gemischt; die mächtigen Nervier
(im Hennegau) bezeichnet eine achtbare Autorität geradezu als
Germanen. Diese ersten Ansiedlungen waren vielleicht gering-
fügig; unbedeutend waren sie nicht, denn in dem chaotischen
Dunkel, in dem wir um diese Zeit die Völkerschaften am Rhein
auf- und niederwogen sehen, läſst sich doch wohl erkennen,
daſs auf der Spur jener Vorposten ihre Landsleute sich anschick-
ten in Massen den Rhein zu überschreiten. Von zwei Seiten
durch die Fremdherrschaft bedroht und in sich zerrissen war es
kaum zu erwarten, daſs die unglückliche keltische Nation sich
jetzt noch emporraffen und mit eigener Kraft sich erretten werde.
Ihre Zersplitterung und ihr Untergang in der Zersplitterung war
bisher ihre Geschichte; wie sollte eine Nation, die keinen Tag
nannte gleich denen von Marathon und Salamis, von Aricia und
dem raudischen Felde, eine Nation, die selbst in ihrer frischen
Zeit keinen Versuch gemacht hatte Massalia mit gesammter Hand
zu vernichten, jetzt, da es Abend ward, so furchtbarer Feinde
sich erwehren?

Je weniger die Kelten sich selbst überlassen den Germanen ge-
wachsen waren, desto mehr Ursache hatten die Römer die zwischen
den beiden Nationen obwaltenden Verwickelungen sorgsam zu über-
wachen. Waren sie auch von den daraus entspringenden Bewe-
gungen bis jetzt nicht unmittelbar berührt worden, so waren sie
doch bei dem Ausgang derselben mit ihren wichtigsten Inter-
essen betheiligt. Begreiflicher Weise hatte die innere Haltung
der keltischen Nation sich mit ihren auswärtigen Beziehungen
rasch und nachhaltig verflochten. Wie in Griechenland die lake-
daemonische Partei sich gegen die Athener mit Persien verband,
so hatten die Römer von ihrem ersten Auftreten jenseit der Alpen
an gegen die Arverner, die damals unter den südlichen Kelten
die führende Macht waren, an deren Nebenbuhlern um die Hege-
monie, den Haeduern eine Stütze gefunden und mit Hülfe dieser
neuen ‚Brüder der römischen Nation‘ nicht bloſs die Allobrogen
und einen groſsen Theil des mittelbaren Gebiets der Arverner
sich unterthänig gemacht, sondern auch in dem frei gebliebenen

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[223/0233] DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS. gallischen Umwohnern gleich wie von Unterthanen Geiſseln ein- zufordern und jährlichen Tribut zu erheben. Dahin gehörten die Aduatuker, die aus einem Splitter der Kimbrermasse (II, 174) zu einem ansehnlichen Gau angewachsen waren, und eine Anzahl anderer später unter dem Namen der Tungrer zusammengefaſster Völkerschaften an der Maas in der Gegend von Lüttich. In dem ganzen Gebiet der Schelde, Maas und Mosel war die Bevölkerung stark mit deutschen Elementen gemischt; die mächtigen Nervier (im Hennegau) bezeichnet eine achtbare Autorität geradezu als Germanen. Diese ersten Ansiedlungen waren vielleicht gering- fügig; unbedeutend waren sie nicht, denn in dem chaotischen Dunkel, in dem wir um diese Zeit die Völkerschaften am Rhein auf- und niederwogen sehen, läſst sich doch wohl erkennen, daſs auf der Spur jener Vorposten ihre Landsleute sich anschick- ten in Massen den Rhein zu überschreiten. Von zwei Seiten durch die Fremdherrschaft bedroht und in sich zerrissen war es kaum zu erwarten, daſs die unglückliche keltische Nation sich jetzt noch emporraffen und mit eigener Kraft sich erretten werde. Ihre Zersplitterung und ihr Untergang in der Zersplitterung war bisher ihre Geschichte; wie sollte eine Nation, die keinen Tag nannte gleich denen von Marathon und Salamis, von Aricia und dem raudischen Felde, eine Nation, die selbst in ihrer frischen Zeit keinen Versuch gemacht hatte Massalia mit gesammter Hand zu vernichten, jetzt, da es Abend ward, so furchtbarer Feinde sich erwehren? Je weniger die Kelten sich selbst überlassen den Germanen ge- wachsen waren, desto mehr Ursache hatten die Römer die zwischen den beiden Nationen obwaltenden Verwickelungen sorgsam zu über- wachen. Waren sie auch von den daraus entspringenden Bewe- gungen bis jetzt nicht unmittelbar berührt worden, so waren sie doch bei dem Ausgang derselben mit ihren wichtigsten Inter- essen betheiligt. Begreiflicher Weise hatte die innere Haltung der keltischen Nation sich mit ihren auswärtigen Beziehungen rasch und nachhaltig verflochten. Wie in Griechenland die lake- daemonische Partei sich gegen die Athener mit Persien verband, so hatten die Römer von ihrem ersten Auftreten jenseit der Alpen an gegen die Arverner, die damals unter den südlichen Kelten die führende Macht waren, an deren Nebenbuhlern um die Hege- monie, den Haeduern eine Stütze gefunden und mit Hülfe dieser neuen ‚Brüder der römischen Nation‘ nicht bloſs die Allobrogen und einen groſsen Theil des mittelbaren Gebiets der Arverner sich unterthänig gemacht, sondern auch in dem frei gebliebenen

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/233>, abgerufen am 30.04.2024.