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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.

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stürzten, oder zu kraftlosen, trägen und unnützen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machten. Sein höchstmageres aus Haut und Knochen zusammengesetztes Gesicht, seine tiefliegenden, matten Augen, seine bleichen Wangen, und seine ganze knöcherne Figur flößen Mitleiden gegen ihn ein, und das um so viel mehr, da ihm sein übertriebener hundischer Geitz nicht von einem ansehnlichen Vermögen Gebrauch zu machen erlaubt, wovon er sehr anständig und bequem leben könnte. Jener hohe Grad des Geldgeitzes, womit sein unwiderstehlicher Hang zum Stehlen und Geld zu borgen verbunden ist, macht den Hauptzug in dem Charakter dieses sonderbaren Menschen aus, welcher mit Recht einen Platz in der Erfahrungsseelenkunde verdient.

Ohnerachtet dieser Mensch von seinen Pflegeltern, die man ihm zur Aufsicht gegeben hat, und wegen der Unfähigkeit seine Begierden zu beherrschen, und sich selbst zu leiten, geben mußte, täglich so viel Speise und Trank bekommt, daß er gewiß nie hungern oder dursten darf; so sind doch seine Taschen ein beständig angefülltes Magazin von Speisen, die er heimlich bei Tische einsteckt, und entweder vergräbt, oder des Nachts, weil er selten ruhig schlafen kann, verzehrt. Man hat alle Mittel hervorgesucht, dieses Wegtragen seiner Speisen zu verhindern; man hatte noch neulich seine Taschen geflissentlich zunähen lassen; aber nun steckte er das


stuͤrzten, oder zu kraftlosen, traͤgen und unnuͤtzen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machten. Sein hoͤchstmageres aus Haut und Knochen zusammengesetztes Gesicht, seine tiefliegenden, matten Augen, seine bleichen Wangen, und seine ganze knoͤcherne Figur floͤßen Mitleiden gegen ihn ein, und das um so viel mehr, da ihm sein uͤbertriebener hundischer Geitz nicht von einem ansehnlichen Vermoͤgen Gebrauch zu machen erlaubt, wovon er sehr anstaͤndig und bequem leben koͤnnte. Jener hohe Grad des Geldgeitzes, womit sein unwiderstehlicher Hang zum Stehlen und Geld zu borgen verbunden ist, macht den Hauptzug in dem Charakter dieses sonderbaren Menschen aus, welcher mit Recht einen Platz in der Erfahrungsseelenkunde verdient.

Ohnerachtet dieser Mensch von seinen Pflegeltern, die man ihm zur Aufsicht gegeben hat, und wegen der Unfaͤhigkeit seine Begierden zu beherrschen, und sich selbst zu leiten, geben mußte, taͤglich so viel Speise und Trank bekommt, daß er gewiß nie hungern oder dursten darf; so sind doch seine Taschen ein bestaͤndig angefuͤlltes Magazin von Speisen, die er heimlich bei Tische einsteckt, und entweder vergraͤbt, oder des Nachts, weil er selten ruhig schlafen kann, verzehrt. Man hat alle Mittel hervorgesucht, dieses Wegtragen seiner Speisen zu verhindern; man hatte noch neulich seine Taschen geflissentlich zunaͤhen lassen; aber nun steckte er das

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[22/0024] stuͤrzten, oder zu kraftlosen, traͤgen und unnuͤtzen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machten. Sein hoͤchstmageres aus Haut und Knochen zusammengesetztes Gesicht, seine tiefliegenden, matten Augen, seine bleichen Wangen, und seine ganze knoͤcherne Figur floͤßen Mitleiden gegen ihn ein, und das um so viel mehr, da ihm sein uͤbertriebener hundischer Geitz nicht von einem ansehnlichen Vermoͤgen Gebrauch zu machen erlaubt, wovon er sehr anstaͤndig und bequem leben koͤnnte. Jener hohe Grad des Geldgeitzes, womit sein unwiderstehlicher Hang zum Stehlen und Geld zu borgen verbunden ist, macht den Hauptzug in dem Charakter dieses sonderbaren Menschen aus, welcher mit Recht einen Platz in der Erfahrungsseelenkunde verdient. Ohnerachtet dieser Mensch von seinen Pflegeltern, die man ihm zur Aufsicht gegeben hat, und wegen der Unfaͤhigkeit seine Begierden zu beherrschen, und sich selbst zu leiten, geben mußte, taͤglich so viel Speise und Trank bekommt, daß er gewiß nie hungern oder dursten darf; so sind doch seine Taschen ein bestaͤndig angefuͤlltes Magazin von Speisen, die er heimlich bei Tische einsteckt, und entweder vergraͤbt, oder des Nachts, weil er selten ruhig schlafen kann, verzehrt. Man hat alle Mittel hervorgesucht, dieses Wegtragen seiner Speisen zu verhindern; man hatte noch neulich seine Taschen geflissentlich zunaͤhen lassen; aber nun steckte er das

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/24>, abgerufen am 27.04.2024.