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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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wehrt werden muß. -- Solcherlei Vorstellungen
vom Staate waren in Deutschland die verbrei-
tetsten, bis die allgemeine Noth daran erinnert
hat, daß die Götter ihren Sitz anderswo haben,
als in den kleinen Nichtswürdigkeiten des elegan-
ten und häuslichen Lebens; bis, unter den unge-
heuren Bewegungen der Zeit, selbst in die feig-
sten und schlaffsten Seelen eine Ahndung gekom-
men ist, daß dem Menschen alles fehle, wenn
er die gesellschaftlichen Bande oder den Staat
nicht mehr empfindet. -- Aber klar ist die Vor-
stellung noch nicht, daß der Staat das Bedürf-
niß aller Bedürfnisse des Herzens, des Geistes
und des Leibes sey; daß der Mensch nicht etwa
bloß seit den letzten civilisirten Jahrtausenden,
nicht bloß in Europa, sondern überall und zu
allen Zeiten, ohne den Staat nicht hören, nicht
sehen, nicht denken, nicht empfinden, nicht lie-
ben kann; kurz, daß er nicht anders zu den-
ken ist, als im Staate
. -- Alle große und
tiefe Gemüther haben das längst erkannt; aber
daß auch leichtere Seelen, die von einem untrieg-
lichen, gesellschaftlichen Tact geleitet werden und
mehr zur Klugheit als zur Weisheit erzogen
sind, endlich damit übereinstimmen, zeigt Vol-
taire's
berühmter Ausspruch: Celui qui n'ose
regarder fixement les deux poles de la vie

wehrt werden muß. — Solcherlei Vorſtellungen
vom Staate waren in Deutſchland die verbrei-
tetſten, bis die allgemeine Noth daran erinnert
hat, daß die Goͤtter ihren Sitz anderswo haben,
als in den kleinen Nichtswuͤrdigkeiten des elegan-
ten und haͤuslichen Lebens; bis, unter den unge-
heuren Bewegungen der Zeit, ſelbſt in die feig-
ſten und ſchlaffſten Seelen eine Ahndung gekom-
men iſt, daß dem Menſchen alles fehle, wenn
er die geſellſchaftlichen Bande oder den Staat
nicht mehr empfindet. — Aber klar iſt die Vor-
ſtellung noch nicht, daß der Staat das Beduͤrf-
niß aller Beduͤrfniſſe des Herzens, des Geiſtes
und des Leibes ſey; daß der Menſch nicht etwa
bloß ſeit den letzten civiliſirten Jahrtauſenden,
nicht bloß in Europa, ſondern uͤberall und zu
allen Zeiten, ohne den Staat nicht hoͤren, nicht
ſehen, nicht denken, nicht empfinden, nicht lie-
ben kann; kurz, daß er nicht anders zu den-
ken iſt, als im Staate
. — Alle große und
tiefe Gemuͤther haben das laͤngſt erkannt; aber
daß auch leichtere Seelen, die von einem untrieg-
lichen, geſellſchaftlichen Tact geleitet werden und
mehr zur Klugheit als zur Weisheit erzogen
ſind, endlich damit uͤbereinſtimmen, zeigt Vol-
taire’s
beruͤhmter Ausſpruch: Celui qui n’ose
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[42/0076] wehrt werden muß. — Solcherlei Vorſtellungen vom Staate waren in Deutſchland die verbrei- tetſten, bis die allgemeine Noth daran erinnert hat, daß die Goͤtter ihren Sitz anderswo haben, als in den kleinen Nichtswuͤrdigkeiten des elegan- ten und haͤuslichen Lebens; bis, unter den unge- heuren Bewegungen der Zeit, ſelbſt in die feig- ſten und ſchlaffſten Seelen eine Ahndung gekom- men iſt, daß dem Menſchen alles fehle, wenn er die geſellſchaftlichen Bande oder den Staat nicht mehr empfindet. — Aber klar iſt die Vor- ſtellung noch nicht, daß der Staat das Beduͤrf- niß aller Beduͤrfniſſe des Herzens, des Geiſtes und des Leibes ſey; daß der Menſch nicht etwa bloß ſeit den letzten civiliſirten Jahrtauſenden, nicht bloß in Europa, ſondern uͤberall und zu allen Zeiten, ohne den Staat nicht hoͤren, nicht ſehen, nicht denken, nicht empfinden, nicht lie- ben kann; kurz, daß er nicht anders zu den- ken iſt, als im Staate. — Alle große und tiefe Gemuͤther haben das laͤngſt erkannt; aber daß auch leichtere Seelen, die von einem untrieg- lichen, geſellſchaftlichen Tact geleitet werden und mehr zur Klugheit als zur Weisheit erzogen ſind, endlich damit uͤbereinſtimmen, zeigt Vol- taire’s beruͤhmter Ausſpruch: Celui qui n’ose regarder fixement les deux poles de la vie

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/76>, abgerufen am 27.04.2024.